Reise ans Ende des Anfangs

Die Indienreise der wundersamen Begegnungen

(Auszug aus dem 2. Teil. Ankunft in Indien, Kulturschock, Daniel und Jakob machen Fehler.)

Reise ans Ende des Anfangs

Alles was du brauchst, passt in einen Rucksack. Dennoch ist es ein seltsames Gefühl, in einem Flugzeug zu sein, das dich auf einen anderen Kontinent bringen wird. Beengt sitzen wir in der summenden Stahlhülse, schauen die Hälse verdrehend aus der ovalen Luke, und ich frage mich, ob es die richtige Entscheidung war! Der lange Indienaufenthalt wartet hinter der nächsten Ecke auf uns: Eine unbekannte Welt, von der ich weder weiß, wie sie aussieht, noch wie sie riecht oder funktioniert. Welche Rolle ich wohl darin spielen werde? Es soll Menschen geben, die können die Tage hinter sich bringen, ohne etwas Besonderes zu empfinden oder zu erleben. Ihnen genügt, sich körperlich und geistig durch Arbeit und Sport zu verausgaben. Ich hingegen suche verzweifelt jeden Tag aufs Neue etwas Außergewöhnliches, etwas Eigenes, sonst gehe ich unter, bin ausgelöscht, fühle mich verloren! In gewissen Phasen ist es einfach, diesen besonderen Zustand zu erreichen. Dagegen hasse ich Zeiten emotionalen Mangels. Leonora ist ein Allheilmittel. Es muss jedoch nicht immer eine geliebte Frau an meiner Seite sein, die meinem Dasein Gültigkeit verleiht. Es kann bisweilen auch ein kontemplatives Erlebnis sein oder ein langer eindrücklicher Spaziergang am See. Das Gegenteil davon ist der Aufenthalt in einer sterilen Fabrik, unsinnliche Arbeit, umgeben von bleiernen Menschen, gefangen in Monotonie – all das lähmt und liegt mit dem Bedürfnis nach Lebendigkeit in quälendem Widerspruch.
All dies bedeutet, dass ich auch in Indien täglich mein Seelenleben bei Laune halten muss, nicht länger im Kulturraum Europa, wo jedes tausendste Kleinkind die Werke der Weltliteratur auf den Knien balanciert, wo besinnliche Spaziergänge vereinzelt immer noch Lebensart sind, wo die Abgesondertheit des Einzelnen respektiert wird. Sei es auch nur, weil man sich für den anderen nicht interessiert und sich selbst nur allzu gern einsilbig und engherzig absondert.
Um mich lebendig zu fühlen, müsste ich weiterhin jeden Tag mit Jakob von der Fahrradbrücke in den septemberkühlen Rhein springen. Wie kann sich in Indien solch eine erfrischende Handlung ergeben? Wo werde ich auf dieser Reise finden, was ich zum Dasein brauche? Werde ich das Besondere finden oder wird es ausbleiben?
Sind dies die überflüssigen Fragen eines verwöhnten Europäers, dessen Spielraum in der Flugzeugkapsel auf einen schmalen Sitz beschränkt ist? Es gibt nur eine Frau, die die erstarrte Welt mit einer elegant-geschmeidigen Bewegung vaporisiert, mich in ihre Aura aufnimmt und ringsum alles in sirrende Bewegung versetzt. Was Leonora und mich verbindet, lässt sich durch nichts ersetzen! Ich muss sie so bald wie möglich wiedersehen!
Während des Fluges mache ich mir noch über vieles Gedanken, das mit meinem bisherigen Leben zu tun hat. Aber all das wird in Indien eine untergeordnete Rolle spielen! Unter uns das weiß leuchtende Wolkenmeer, über uns flimmerndes Hellblau. Erst im Sinkflug, als es um uns herum still wird, und es klar ist, dass wir gleich in einem fremden Land ankommen werden, steigen hundert kunterbunte Heißluftballons in der Brust auf! Wir gleiten über rissige Landstriche und starren angestrengt auf die endlose Häuseransammlung am Horizont. Schon gleitet der Stahlvogel schräg über Mumbai und seine Slums dahin. Wir schaukeln in einer kontrollierten Absturzbewegung voran. Als die Räder den Boden berühren, haben wir das langweilige und komfortable Europa unwiderruflich hinter uns gelassen. Es ist müßig, sich jetzt noch die Frage zu stellen, ob es richtig war, sich auf das Ganze einzulassen. Das ist typisch für mich, erst dann anfangen zu überlegen, ob etwas in Ordnung ist, wenn ich schon mittendrin bin.

Als Letzte tapsen wir aus dem Flugzeug heraus, passieren die Zollkontrolle und gehen zum Schalter der State Bank of India. Schlaff in seinem Holzstuhl hängt der kastanienbraune Bankangestellte und tippt achtzig statt neunzig. Wir reklamieren. Ohne dass er sich durch Nachzählen vergewissern muss, korrigiert der Schnauzbärtige. Die Luft ist schwer und feucht, heiß und drückend! Wir streifen überflüssig gewordene Kleidungsstücke ab. Aus allen Poren bricht der Schweiß! Wie schwer es sich atmet!
Ein kleiner Bus fährt vor, wir steigen ein, ohne zu wissen, wohin die Fahrt geht. Statt ins Stadtzentrum Mumbais werden wir zum nationalen Flughafen gefahren. Zielstrebig streben die Passagiere ihren Inlandsflügen zu, während wir irritiert vor der Flughafenhalle zurückbleiben. Alle sind sie innerhalb einer Minute verschwunden und wir ankern endgültig in einer anderen Welt. Vorsichtig schnuppern wir die eigenartigen Gerüche einer indischen Megacity: Abfall und Urin, Rauch und Abgase, Koriander und Curry, sowie tausend weitere Essenzen wabern in der Gewächshaushitze.
Als wir am Ticketschalter zum zweiten Mal nachfragen, rattert das Gitter vor unseren schweißbedeckten Nasen herunter. In Busse auf dem Vorplatz dürfen wir nicht einsteigen. Auf Fragen antworten die Fahrer in Marathi und verscheuchen uns schließlich mit abwehrenden Armbewegungen. Von hier fährt kein Bus in die Stadt. Der Hindi-Sprachführer beult lächerlich-nutzlos die Hosentasche aus.
Tropische Schwüle brütet über dem öden Flughafengelände! Jakob wartet neben unserem Gepäckhaufen, während ich durch die indische Hitze zum Taxistand wate. Der Fahrer des Hindustan Ambassador zeigt wortlos und gelangweilt auf einen Mann in einer hellbraunen Uniform. Der Polizist fügt meinen Namen, falsch geschrieben, einer Liste hinzu, wir steigen ein und fahren los. Noch auf dem Vorplatz des Flughafens winkt uns ein Busfahrer zu, den wir zuvor gefragt hatten, wie wir von hier in die Stadt kommen und ruft: „Too expensive! Take Rickshaw!“

Hektisch gestikulieren wir doch bitte anzuhalten. Der Busfahrer zeigt auf in der Nähe stehende Rikschas. Wir klettern von der federnden Sitzbank herunter, hieven unsere Rucksäcke aus dem tiefliegenden Kofferraum und schleifen diese unauffällig-eilig zu einer angeblich wohlfeileren schwarz-gelben Dreiradrikscha. Der Chauffeur starrt uns zornfunkelnd hinterher! Er lässt seinen Wagen mit geöffneter Türe mitten auf dem Areal stehen und schlurft über den Flughafenvorplatz auf den Polizisten zu.
„Go!, Go!“, flüstern wir nervös. Ein Mann springt herbei und setzt sich neben den Fahrer. Knatternd setzt sich das dreirädrige Gefährt in Bewegung. Wir wollen zur Palevare Station, um von dort einen Bus zur Churchgate Station zu nehmen. Dort soll es Unterkünfte für Backpacker geben.
Der Rikschafahrer und sein Freund flüstern in einem Tonfall miteinander, der uns nicht gefällt. Nach ein paar Minuten halten sie an irgendeiner namenlosen Ecke Mumbais an. Der Beifahrer der Rikscha murrt als Antwort auf unsere Frage abfällig: „Yes, yes! Palevare, that’s here. You have to pay thirty Dollar!“
„Too much.“
„THIRTY DOLLAR! PAY! THIRTY DOLLAR! PAY NOW! “
„NO!“
Vor kaum einer Stunde sind wir gelandet und schon geht alles schief. Finster stehen wir den zwei fordernden Indern gegenüber und vielleicht gehen wir gleich aufeinander los. So schnell entgleitet uns alles. Wir sind wütend, weil sie uns ausnehmen wollen. Sie merken, dass wir aufgebracht sind und uns lieber mit ihnen schlagen, als uns noch länger zum Narren halten zu lassen. Widerwillig rücken wir dreißig Rupien heraus, was sicherlich noch immer zu viel ist und starren im nächsten Moment der weiterfahrenden Rikscha hinterher.
Verwundert stehen wir in einer Welt voller Armut und Hoffnungslosigkeit. Wir sind mitten in einem Elendsviertel irgendwo in Mumbai. Es ist grotesk und erbärmlich, monströs und endlos. Am Boden liegen bettelarme Menschen. Sie vegetieren auf der nackten Erde. Das Gepäck zu unseren Füßen, stehen wir auf der staubigen Straße und schauen uns betroffen um: Ein krummer Stock und eine zerfetzte Kunststoffplane bilden die halbmeterniedrige Unterkunft eines Menschen, der vor unseren Augen darunterkriecht und erschöpft den Kopf auf seinen Arm legt. Die Besitzlosen tragen nur Fetzen am Leib. Wir sind unwiderruflich mitten in Indiens harter Realität angekommen! Sobald wir eine Rikscha erspähen, winken wir, während Barfüßige meterhoch bepackte hölzerne Karren ziehen. Eine vierköpfige Familie fährt auf einem Motorrad an uns vorüber. Einige hupen, wenn sie uns erblicken, andere winken uns aus ihren eckig-altmodischen Autos zu. Endlich hält eine Rikscha. Diesmal vorab den Preis aushandeln! Wir nicken bedächtig, als würden wir den üblichen Tarif kennen und nehmen die Rucksäcke auf die Knie. Dauerhupend kurven wir durch enge, schmutzige Straßen, bettelnde Kinderscharen recken tausend dünne Arme in unsere Richtung! Weiter, nur immer weiter, in Bewegung bleiben! Links und rechts unzählige Bedauerliche, die unter Planen hausen, am Straßenrand kauern oder sich spindeldürr voranschleppen. Wir rattern an verfallenen Häusern vorbei. Lumpenzelte ziehen vorüber, Menschen liegen reglos im Straßenstaub. Der Boden ist übersät mit Plastikfetzen, Überbleibseln von Autowracks, Abfall- und Schutthäufen, undefinierbaren Resten jeglichen Zivilisationsmülls, kreuz und quer liegt Wertloses. Schmutzerstarrt verharren manche, andere gehen in grauschwarzen Lumpen umher. Fast alle sind barfuß unterwegs. Schäbige Hütten säumen nun die Straße.
Diesmal erreichen wir unser Ziel und steigen an der Palevare Station aus. Hier werden Melonenstücke verkauft, Bananen türmen sich auf einem Handkarren. Während der Bananenverkäufer seine Ware ausruft, überstimmt ihn bereits das kehlige „Kofi, Kofi“ eines dürren, alten Mannes, der auf der Suche nach Kunden eine Blechkanne in der einen und in der anderen Hand einen Drahtkorb mit Gläsern umherträgt. Ein verkrüppelter Bettler schiebt sich, die Hände in Sandalen, vorwärts, schleift seinen Körperrumpf auf dem Boden nach. Als wir entsetzt feststellen, dass er versucht, sich an unsere Beine zu klammern, greifen wir unsere Rucksäcke und gehen ausweichend ein paar Schritte weiter. Kriechend verfolgt er uns. Wir sind erschüttert und fassungslos und wollen eigentlich nur weg von hier! Irgendwann stellen wir erleichtert fest, dass er aufgibt. Jedoch umströmen uns Fußgängermassen. Indiens Milliardenvolk – nie wurde anschaulicher, was das bedeutet. Unbekümmert bewegen sie sich dicht an dicht. In einfachen Straßenrestaurants glimmen Kohlefeuer, der Rauch zwickt in Nase, Augen und Lunge. Auf am Boden liegenden Tüchern werden Plastikarmringe, Gemüse, Kugelschreiber, Gebisse und Gewürze dargeboten. Rikschas schieben sich zwischen den Gehenden hindurch, sporadisch hupend verlangt ein Auto Raum, überall kleine Motorräder, Fahrräder sowieso und dann stößt ein gewaltiger Bus voran, obwohl für so ein riesiges Vehikel hier doch gar kein Platz ist. Alles fließt gleichmütig durch- und nebeneinander voran. Welch unablässiger Menschenstrom! Der Versuch, vor der Palevare Station einen Bus anzuhalten, misslingt, während wir staunen und völlig überwältigt sind. Kinder in Lumpen umringen uns, zupfen an unseren Hosen und verlangen aufdringlich: „Pen, pen, pen“. Da wir uns taub stellen, versuchen sie es mit: „Baba, ek Rupie, Pen, Pen, Baba …“

Ein alter Inder spricht uns an und rät, den Zug zu nehmen. Er gibt mir zum Abschied die linke Hand. Erst danach wird mir bewusst, dass dies eigentlich die unreine Hand ist. Oder ist er Linkshänder und ist somit diesmal die rechte Hand die unreine? Aber woher soll ich all das wissen? Wir schieben uns schrittweise durch die Menge zum Bahngleis und springen kurzentschlossen in einen anfahrenden Zug. Der Waggon ist voll besetzt, einige klammern sich an der Außenhülle fest. Wir quetschen uns an der Dadar Station aus dem Eisenbahnwagen. Von hier sollen Züge nach Nashik abfahren. Wir geben den ursprünglichen Plan auf, zuerst eine Woche in Mumbai zu verbringen und erstehen Tickets für die hundertsiebenundachtzig Kilometer lange Fahrt, steigen ein und sind unendlich froh, weil wir Sitzplätze ergattern und vorerst still in unserer Ecke hocken können. Endlich geht ein Ruck durch den Zug, der sich in Bewegung setzt und aus dem Bahnhof hinausrumpelt. Feuer lodern neben den Gleisen, ein Kleiderfetzenmann steigt über die Schienen, ärmliche Hütten ragen bis auf Armlänge an die Bahnstrecke heran. Die Türen stehen offen, was ein wenig Kühlung verschafft. Händler eilen „Chai, Chai, Chaia“ rufend durch den Zug und natürlich schnarrt einer „Kofi, Kofi.“ Samosas werden verkauft und auf Blechtellern wird Reis, Gemüse und Joghurt serviert. Eine eigenständige, reichhaltig merkantile Welt entfaltet sich im Zug. Erschöpft sehen wir dem quirligen Treiben zu und sind froh, dass man uns ignoriert, wir einem Ziel entgegenfahren und nicht länger durch Mumbai irren müssen. Wir wagen erstmals einen Chai und halten glücklich-müde-lächelnd die kleinen Gläser in den Händen. Der Anfang ist gemacht … Wir sind in Indien!

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