Nachrichten

Der Corona-Idiot

(Auszug aus dem 1. Kapitel)
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Wenn ich zurückblicke, ist es unvorstellbar, wie wir im Januar des Jahres 2020 zwar gebannt, aber dennoch gelassen auf dem Sofa saßen und die Ereignisse im fernen China verfolgten. Als wäre unsere Welt für immer vor solchen Katastrophen sicher. Wir waren der unerschütterlichen Meinung, dass, falls je eine Veränderung käme, diese nur von uns selbst herbeigeführt sein könnte. Eine Umgestaltung unseres Lebens durfte es ausschließlich aus einem Grund geben – weil wir das so wollten. Welch verhängnisvoller Irrtum! Wenige Monate nach den Phasen des intensiven Nachrichtenschauens wurde auch in Europa alles auf den Kopf gestellt.
Jeden Abend saßen wir vor dem Bildschirm und verfolgten bestürzt die Berichte über die Epidemie und ihre ungewöhnlichen Auswirkungen. Wir sahen die düsteren Bilder aus Wuhan. All dies wirkte so fern und irreal, als ob diese Krankheit auf dem Mars ausgebrochen und nicht imstande sei, uns zu erreichen. Dennoch schockierten uns die Bilder einer abgeriegelten Stadt in Ausgangssperre. Die chinesischen Behörden griffen durch. Die machten das einfach. Wie würde das bei uns sein? Nein, daran war nicht zu denken. Wider besseres Wissen dachte ich, dass sich so etwas bei uns nie ereignen würde. Dies musste eine Krankheit sein, die ausschließlich in Ostasien ausbrechen konnte. Sie vermochte sicherlich nicht, den Weg zu uns zu finden. Das war schlicht und einfach unmöglich. Natürlich bestand ich nur aus einem Grund auf dieser irrigen Meinung: Weil es unvorstellbar schien, dass bei uns solche Verhältnisse herrschen könnten wie in Wuhan, wo die Straßen leergefegt, die Krankenhäuser überfüllt und die Menschen in Panik waren. Äußerst beunruhigend mutete an, dass die Behörden und Ärzte hilflos wirkten. Jene Zeit bedeutete eine letzte Atempause für den Rest der Welt, als man annahm, dass die Verbreitung des Virus noch auf China beschränkt sei. Welch trügerische Ruhe.
An jenem Abend stand ich beschäftigungslos herum und dachte, dass in einer Stunde die Gäste eintrudeln und in unserem Wohnzimmer Platz nehmen würden. Genau genommen in Cynthias Wohnzimmer, korrigierte ich mich, schließlich ist es ihr Haus, das inmitten der Konstanzer Altstadt steht. Im Grunde gehörten mir damals nur der Inhalt eines Schrankes, in den ich die wenigen Habseligkeiten aus Studienzeiten geräumt hatte: Vor allem Bücher und meine gute alte Ausrüstung für mehrtägige Bergwanderungen.
Ein Indiz, dass wir alle hochmütig weiterlebten wie bisher, war, dass Cynthias Tafelrunde sich vollständig einstellte. Cynthia hatte ein Acht-Gänge-Menü zusammengestellt, welches von unserer Köchin, die offiziell als Angestellte ihres größten Cafés geführt wurde, aber ausschließlich bei uns im Haus arbeitete, zubereitet wurde. Natürlich waren alle begeistert. Das war nicht anders zu erwarten gewesen. Cynthia unterliefen keine Fehler und falls der unwahrscheinliche Fall eingetreten wäre, hätte sie ihn, ohne mit der Wimper zu zucken, korrigiert. Bei mir wäre hier und da ein Mangel sichtbar geworden. Ein Gang hätte nicht zu den Essgewohnheiten mehrerer Gäste gepasst oder die Weingläser wären nicht perfekt poliert gewesen. Vielleicht hätte ich sogar mit Weihnachtsmotiven bedruckte Servietten verwendet.
Noch beim Begrüßungsgetränk, irgendeinem überteuerten Crémant oder Sekt, fiel das erste Mal jenes Wort, welches derzeit in aller Munde war. Diejenige, die es aussprach, meinte, dass wir versuchen sollten, heute Abend nicht darüber zu sprechen. Dies wurde mit Gelächter und beifälligen Gesten aufgenommen. Kaum saß man um den großen runden Tisch, die Vorspeise wurde serviert, ignorierte jemand, was gerade noch scherzhaft vorgeschlagen worden war. Als das Wort erneut ausgesprochen wurde, brachen sämtliche Dämme und alle redeten ungehemmt über das imposante Thema dieser Tage. Nichts schien an diesem Abend schwieriger, als die Gäste daran zu hindern, über die Einfälle zu reden, die in ihren Köpfen popcornexplosionsartig hochschossen. Es brannte allen auf der Zunge. Jeder hatte etwas dazu zu sagen. Derzeit konnte keine andere Angelegenheit Bestand haben, alle mussten darüber fabulieren, ob sie wollten oder nicht, es war eine geradezu unerlässliche Notwendigkeit. Es stellte sich heraus, dass natürlich alle die Nachrichten und die gespenstisch anmutenden Bilder aus China gesehen hatten. Sämtliche möglichen und unmöglichen Meinungen wurden ungehemmt ausgesprochen. Zu Anfang warf jeder rasch etwas ein, ohne eine Antwort abzuwarten, denn schon hob der Nächste hervor, was er für einen wichtigen Aspekt hielt. Klara versicherte: „Das wird auch bei uns einschlagen, es ist nicht aufzuhalten.“ Dabei tätschelte sie mit der flachen Hand ihre rot gefärbten und toupierten Haare.
Wenig später hatten sich kleine Gesprächsgruppen gebildet. Hier und da erfasste ich Sätze, während mir auffiel, dass vor Erregung schneller gesprochen wurde als sonst.
„Ja, aber es ist nicht schlimmer als eine Grippe“, meinte Luise, die offensichtlich eine beschwichtigende Position einnahm und sich in dieser Rolle gefiel.
Klara hingegen prophezeite: „Irgendeiner wird es unbemerkt einschleppen und bis sie feststellen, dass er etliche Menschen angesteckt hat, wird es schon zu spät sein und viele daran erkranken. Ich wüsste nicht, wie man das verhindern kann.“
„Also ich gurgle mit Weißwein“, scherzte Annemieke und hob ihr Glas, um dies umgehend zu demonstrieren. Einige machten es ihr schmunzelnd nach. „Eine äußerst wohlschmeckende Desinfektion“, lächelte Annemieke, während sie ihr Glas absetzte.
„Unser Gesundheitssystem ist gut genug“, versicherte Luise und ich fragte mich, woher sie ihr Wissen bezog.
„Na, ich weiß nicht. Der Gesundheitsminister hätte mehr Beatmungsgeräte bestellen müssen“, kritisierte Klara.
„Also wir werden noch schnell in den Urlaub fliegen, bevor das nicht mehr möglich ist“, gab Annemieke bekannt.
„Wann fliegt ihr?“, fragte Cynthia.
„Morgen. Ab Zürich.“
„Und wenn ihr im Hotel in Quarantäne müsst? Da mussten doch irgendwo die Urlaubsgäste in ihren Hotelzimmern bleiben. Die durften nicht einmal mehr zum Essen das Zimmer verlassen. Denen wurden nur noch ab und zu Zettel vor die Tür gelegt. Wenn du im Ausland festhängst und nicht mehr willkommen bist – also ich traue mich nicht mehr, zu verreisen“, gab Klara zu.
„Ach, das wird alles nicht so schlimm kommen. Das wird völlig übertrieben“, versicherte Annemieke.
Das Gesprächskarussell drehte sich weiter und weiter. Das Top-Thema dieser Tage war noch lange nicht erschöpft. Jeder hatte etwas Gewichtiges dazu zu sagen.
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