Der unbeugsame Traumdiener

Tante Bella und die Grünpflanzenkommissarin

(Auszug aus der 5. Geschichte "Der unbeugsame Traumdiener".)

Der unbeugsame Traumdiener

Die Vereinssitzungen jedenfalls waren total seltsam. Eine kunterbunte Ansammlung von Mitgliedern saß im Gesprächskreis. Sie hatten nichts Besseres zu tun, als ihren Senf zu diversen Kinothemen abzugeben. Es waren uralte Knitterknilche darunter, denen zuhause wohl die Decke auf den Kopf fiel und die, bevor sie ins Altersheim übersiedeln würden, sich nochmals irgendwo eine Runde nützlich fühlen wollten. Es war offensichtlich völlig gleichgültig, ob jemand mehr störte als nützlich war. Schließlich war hier jeder willkommen. Irgendwie krankte der Verein ständig an einem Mangel an aktiven Mitgliedern. Es waren die unterschiedlichsten Cineasten zugegen: Wandelnde Filmlexika, Film-noir-Liebhaber, Horrorfilmfreaks, von Dokumentationen Besessene … Ein Mittfünfziger hatte entweder überall Lokalverbot, nirgends Anschluss gefunden oder kein Zuhause, denn er war irgendwie immer anwesend. Er war ein alternder Gigolo, den ich im Verdacht hatte, dass er nur wegen Frauen wie Esther hier war, und nicht wahrhaben wollte, dass seine besten Jahre längst vorbei waren. Andere wollten wohl ihren künstlerischen und sonstigen Handlungsbedarf ausleben, indem sie überall mitredeten. Ob sinnvoll oder nicht, war dabei völlig nebensächlich. Hauptsache, sie waren dabei und gaben sich der Illusion hin, dass sie am Glanz der Filmwelt teilhaben konnten. Das Schlimme daran war, dass bei diesen wöchentlichen Sitzungen Protokoll über jede Kleinigkeit geführt werden musste. Bisher hatte ich mich vor der peniblen Niederschrift erfolgreich gedrückt, indem ich vor den Sitzungen auf der Toilette verschwand und mich erst nach ausreichender Wartezeit wieder blicken ließ. Erleichtert hatte ich jeweils registriert, dass Esther bereits im Stenomodus war, woraufhin ich mich entspannt an die Bierschublade begeben hatte und ein Eiskaltes kielholte. Außerdem hatte ich kürzlich herausgefunden, wie man die Temperatur der Kühlschrankschubladen noch weiter herunter regeln konnte. Ich liebe eiskaltes Bier. Das kühlt im Voraus den am nächsten Tag zu erwartenden Kater. Soweit meine Theorie hierzu. Mein Feld in der Getränkeliste war leider längst mit Strichen überladen. Erfinderisch hatte ich von Esthers Kästchen die Hälfte durch zwei fette, unübersehbare Trennstriche abgezwackt und strichelte dort fleißig weiter. Diesmal aber setzte Urs mir gewaltig zu, indem er mir das Führen des Protokolls zuschanzte. Esther schaute mich bekümmert an, als ich deutlich verspätet von der Toilette zur Sitzung eilte. Ihr Mitgefühl war nicht einmal vorgetäuscht. Sie war keine von der üblen Kulturbitch-Sorte, aber mir schwante bereits Unheil. Dafür habe ich ein unheimlich gutes Gefühl, das ich im Lauf der Jahre nicht nur einfach so entwickelt, sondern mir knallhart antrainiert habe. Das Klemmbrett mit tintengeilem Papier lag nicht auf Esthers Schoß, sondern auf dem einzigen freien Stuhl, meinem Stuhl. Die Vereinsmeier quasselten bereits kreuz und quer durcheinander, natürlich bog ich dennoch zur Getränkeschublade ab und öffnete diese. Leider klirrte die Bierflaschenbatterie, woraufhin etliche Köpfe sich hoben. Urs hingegen schien in sich hinein zu lauschen, er saß ganz gekrümmt und sah niemanden an. Vorbereitend nahm ich einen langen Zug, überlegte vorsorglich, ein zweites Bier an den Platz mitzunehmen, die Sitzungen konnten sich nämlich ins Unendliche ausdehnen, aber bei einem prüfenden Blick auf Urs, beschloss ich, vorerst darauf zu verzichten. Außerdem wäre das Reservefläschlein nachher nicht mehr eiskalt. Zudem registrierte ich mit meinen höllisch empfindlichen Antennen, dass Esther mir durch das Hochziehen der Augenbrauen signalisierte, mich zu beeilen. Also nahm ich Platz, stellte das Bier zwischen den Stuhlfüßen ab, legte den Block auf meinen Schoß, zählte die Anwesenden durch und fragte zur Sicherheit den Grauschopf nach seinem Namen. Der war zwar jedes Mal anwesend und redete mich mit Fred an, aber Namen zu memorieren gehörte nicht zu meinen Vorzugseigenschaften. Er brauchte aufgrund eines heftigen Schluckaufs, ihm war das Bier zu kalt, eine Zeitlang, bis er antworten konnte. „Ah, genau! Felix! Richtig! Wusste ich es doch.“
Und dann ging das Endlos-Gefasel erst so richtig los. Es ging zunächst um das Open Air, das irgendwann im Jahr 2487 stattfinden würde und den dafür nötigen Technik-Check. Wer den übernehmen würde? Schweigen im Walde! Plötzliche Stille! Eine spirituelle Einkehrübung! Tiefempfundene Ruhe, bis Esther ihre Dienste anbot, aber nicht als Hauptverantwortliche, da sie noch nie bei einem Open Air mitgemacht hatte. Ich notierte OA und kritzelte dahinter ein E. Am Ende würde da wohl überall ein E stehen. Wie ich diese Messlattenhochlegerinnen hasse! Urs erwartete sicher, dass ich mich auch irgendwo engagieren würde. Das ließ sich ohne weiteren Verlust meines Ansehens wohl nicht vermeiden. Aber es musste irgendwas mit wenig Aufwand sein. Promotiontour mit dem Biersponsor. Das wäre genau mein Ding. Vielleicht könnte ich dadurch privat an einige Kästen kommen, nachdem ich Tuchfühlung mit den Jungs von der Brauerei aufgenommen hatte. Inzwischen ging es um einen Termin für die jährliche Sicherheitseinweisung, an dem alle Zeit haben sollten, was natürlich dazu führte, dass jeder lang und breit erklärte, warum er an diesem und jenem Termin nicht könne und jeder zweimal sein halbes Leben ausbreitete. Das war interessant wie Radiowerbung. Schließlich verfingen sie sich in einer umständlichen Diskussion über die Kooperation mit irgendeinem lokalen Schweizer Verein, dessen Namen ich nicht verstand. Ich notierte: ?-Verein, Kooperation, Reto. Und so ging es weiter und weiter. Endlos! Es war hoffnungslos und kein Lichtschimmer am Horizont.

Triviale Themen, die man im Handumdrehen hätte entscheiden können, wurden ergebnislos vertagt. Eine Lösung herbeiführen? Aber nicht doch. Das wäre viel zu einfach. Alles und nichts wurde zunächst einmal von sämtlichen Seiten beleuchtet und mindestens dreimal zu Tode diskutiert. Jeder wollte schließlich ein Wörtchen mitreden. Auf die zahllosen Anmerkungen in einer ersten Sondierungsrunde folgten natürlich zahllose Ergänzungen und Einwände, Kommentare und Anfechtungen und bisweilen ausgiebige und durchaus leidenschaftlich geführte Diskussionen. Kaum gab es Befürworter und eine Entscheidung schien greifbar, tauchten reflexartig Gegenstimmen auf. Aus allem und jedem wurden hochkomplexe Essenzen gewonnen, die in komplizierten Prozessen mehrfach destilliert wurden.

Da sich die Sitzung sogar im Empfinden der hartnäckigsten Dauerquassler ewig hinzog, gab es eine Raucherpause. Reto nutzte dies und redete hinter der Theke auf mich ein. Ob er hochdeutsch sprechen könne, fragte ich Reto, ohne groß darüber nachzudenken, was ich da von mir gab. Reto starrte mich kurz an, als ob er mich mit einem supermannähnlichen Hitzeblick in Flammen aufgehen lassen wolle und grinste im nächsten Moment wie der Freundlichste von allen, sah mich aber an, als wüsste er jetzt endgültig über mich Bescheid. Hatte ich von nun an einen Intimfeind – nur durch eine unschuldige Frage, weil ich zweimal die Hälfte nicht verstand, wenn Reto mich auf Schwiizerdütsch zutextete?

Nach zwei Stunden erhitzten sie sich am Dauerbrenner Türklinken. Diese würden sich schwer betätigen lassen und es verursache ein Geräusch, wenn jemand während des Films zur Toilette müsse. Wenn es sonst nichts mehr zu besprechen gab, und man noch nicht genug hatte, dann wurde eines dieser unerschöpflichen, zeitlosen und immer gültigen Themen in die erwartungsvolle Gesprächsrunde hineingeworfen. Die Vereinsmitglieder mutierten zu gierigen Raubtieren und bissen blutrünstig zu, wodurch beim x-ten Hopfen-Smoothie die behagliche Sitzung in Sachen Effizienz in einen infinitesimalen Zustand expediert wurde. Auf ewig konnte man nun auf den ausgeleierten Sesseln und Sofas sitzen bleiben und weiterreden. Wahrlich. Es war vollbracht. Die Unendlichkeit wurde in solchen Momenten spürbar. Nie war man ihr näher. Längst war nichts mehr aufzuschreiben, jeder hatte seine Meinung wie ein überschüssiges Extrakt abgesondert, seine nach Entleerung drängenden Giftdrüsen restlos ausgequetscht. Entspannt plauderten sie miteinander. Also stand ich auf, drängelte mich zwischen Esther und Reto durch und traf ein extrakühles Bier an, das meinen Namen trug. „Sonst noch jemand?“, fragte ich, aber keiner reagierte. Urs saß irgendwie noch zusammengeballter da. Der hatte mich den ganzen Abend lang nicht angeschaut.


(Wer neugierig, interessiert, gespannt ist, wie die Handlung mit unserem unbeugsamen Traumdiener sich entwickelt, kann in dem Band mit 6 Geschichten "Tante Bella und die Grünpflanzenkommissarin" weiterlesen. Viel Vergnügen bei der Lektüre wünscht Euch Markus Reich.)
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