Und lebten, wie es uns gefiel

Die Indienreise der wundersamen Begegnungen

(Auszug aus dem 4. Teil. Varanasi, Benares, Backpacker, Samsara, Bangh-Lassi am Ganges.)

Und lebten, wie es uns gefiel

Unendlich scheinen die Stufen im Turm der Samsara Lodge. Sechs Backpacker aus fünf Ländern erreichen die Dachterrasse und sehen hinter den verzwickt angeordneten Häusern Varanasis den kolossalen Ganges. Eine kostbare Minute lang ist es sehr ruhig. Sie sind sprachlos, vielleicht weil sie gerade deshalb unterwegs sind, um solche Momente zu erleben.
Die quirlige, kleine, blondgelockte Lily schlägt grinsend vor, Bhang Lassi zu trinken. Kurz darauf dröhnt das Geräusch eines Mixers aus der Küche, einem Verschlag, der durch Vorhänge von der übrigen Terrasse abgetrennt ist. Ein hochaufgeschossener Inder in einem schmuddeligen Hemd läuft solange hin und her, bis jeder ein Glas vor sich stehen hat, das mit einer grünweißen Flüssigkeit gefüllt ist.
Für einen Moment herrscht wiederholt Stille. Abwarten und gespannt auf die Gläser schielen, simultan die Arme ausstrecken und einen ersten Schluck nehmen. Es schmeckt nicht süß wie Mango Lassi, sondern nach kräftigen Kräutern. Trinken, schweigen und neugierig abwarten, wie uns geschieht.
Nichts.
Es ereignet sich rein gar nichts.
Wir schauen uns fragend an.
Logan durchbricht die Stille: „Ich spüre nichts!”
„Ich auch nicht!“
„Vielleicht war es zu wenig?”
„Sollen wir uns noch einen teilen?”, frage ich Scarlett.
Im Verschlag röhrt der Mixer.
Scarlett und Rhett Butler trinken das zweite Glas leer.
Eigentlich geschieht immer noch nichts.
Die angeregte Unterhaltung vereinigt die schillernden Gestalten und springt sporadisch kreuz und quer. „Sollen wir uns alle noch einen teilen?“, ruft Lily und Logan antwortet mit einem großartigen Schnalzen der Zunge. Scarlett versucht es nachzuahmen, aber bei ihr ist kaum etwas zu hören. Ihr Mund ist viel kleiner. Jean-Luc schnalzt und alle lachen, denn selbst sein Zungenschnalzen klingt französisch.
Im Küchenverschlag dröhnt gewissenhaft ein Mixer, den wir Bhang-Machine taufen.
Obwohl ich mich beherrschen will, kann ich ein freudiges Grinsen nicht unterdrücken, als das vertraute Geräusch ertönt. Welch absurde Schönheit die Situation bekommen hat! Und ganz selbstverständlich rattert die Bhang-Machine! Was für ein gutes, verrücktes Land! In diesem Moment kommt erneut die große Liebe zu Indien auf. Natürlich werde ich vielleicht schon morgen wieder dies und jenes verfluchen, wenn eine neue Krankheit sich einstellt oder mich irgendetwas zur Verzweiflung treibt. Schon steht ein weiteres Glas auf dem Tisch. Dicker, grüner Bhang Lassi. Das Glas geht reihum.
„Da sind dicke Klumpen drin!”
Jean-Luc erinnert sich und sagt zu mir: „Nicht Donold Duhk, es muss Donald Dag heißen.”
„Die Amerikaner sagen Donald Dag und die Engländer Donald Duck!“, erwidere ich.
Ringsum Gelächter.
„Irgendwie habt ihr beide recht. Offiziell muss es jedoch in korrektem Englisch Donald Duck heißen“, vermittelt Lily.
„Aber Donold Duhk – or Danald Dog kommt aus den USA, erhältlich jedoch weltweit und so kann es jeder betonen, wie er will: Donold Duhk oder … “
Brüllendes, quiekendes, atemholendes Gelächter.
Logan holt fiepend Luft.
„Jedenfalls wäre es das Beste … ”
Der riesige Logan bricht in ein gewaltiges Gelächter aus. Die Terrasse gerät ins Wanken. Etwas später brauchen wir uns nur anzuschauen. Ohne ersichtlichen Grund ergreift uns anstrengendes Ganzkörperlachen. Logan würgt feixend und bringt nur Donald hervor. In ausgelassener Stimmung lösen sich die angenommenen Charaktere von unseren Körpern, steigen steil empor, während wir uns etwas irr geworden ansehen. Unbemerkt ist es dunkel geworden! Die Terrasse ist ein hell erleuchteter Raum! Umstellt von undurchsichtiger, tosender Schwärze! Wir thronen auf der grell beleuchteten Plattform eines Raumschiffs inmitten der Dunkelheit des endlosen Alls. Perry Rhodans behelmte Visage wird jeden Moment neben uns schweben. Es kann nicht mehr lange dauern.
Das Lachen muss irgendwann verebbt sein.
Schweigend driftet jeder vor sich hin.
Minuten vergehen unbemerkt.
Der Fluss der Zeit lässt sich nicht erkunden, nichts lässt sich festhalten.
Der lange Inder, der uns die Bhang Lassi hingestellt hat, läuft am Tisch vorbei, bleibt stehen, betrachtet uns und meint: „Helicopter, brrrrrrrr!” Sein Zeigefinger kreist, Propellerrotationen imitierend, neben seinem dürren Hals.
Erneute Lachanfälle verebben rasch.
Die Aufmerksamkeit für die Umgebung strebt gegen null.
Der Bhang ist jetzt voll da, sanfte Hände gleiten unter die Schädeldecke und massieren zärtlich die Hirnmasse. Lily richtet sich auf: „Wie wäre es mit einer Bootsfahrt?”
„Nachts?“
„Warum nicht?”
Während andere lachen, sieht sich Archie erstaunt um, als ob er überrascht sei, noch immer hier zu sitzen. Alptraumhaft die Treppenlandschaft der Samsara Lodge! Hinaus in die Gassen Godaulias!
Sechs verlorene, kindisch zugedröhnte Backpacker bleiben bei den Feuern an den Burning Ghats stehen und sehen, wie sie einen in Tücher gewickelten Körper dem Feuer übergeben. Noch sind wir jung und der Tod ist beneidenswert weit entfernt. Die Flammen schlagen hoch, der Holzstapel brennt lichterloh, im Innern des Feuers der vermummte Leichnam. Es ist schwer auszuhalten, wir wenden uns ab und gehen weiter in die Nacht Varanasis hinein.
Lily verhandelt mit einem Bootsverleiher.
„Ich will nicht aufs Wasser“, Jean-Luc hält meinen Arm umklammert. Er schaut mit verschwommenem Blick hilflos vor sich hin und spricht sehr leise.
„Was willst du dann machen?”
„Nur mit euch zusammen sein.”
Wir verzichten auf die Bootstour und flanieren die Ghats entlang. Am Dashashwamedhghat hält mich Jean-Luc erneut am Arm fest: „Ich gehe zurück in meine Lodge.”
„Nein, Jean-Luc, bleib bei uns”, widerspricht Scarlett.
„Nein, nein, ich muss zurück”, bekräftigt Jean-Luc verzweifelt und fragt: „Hast du Geld?”
„Ja, natürlich”, antworte ich verwundert. „Hast du kein Geld mehr?”
„Doch, aber ich kann es nicht mehr – sehen.”
„Bist du sicher, dass du alleine gehen kannst?”
„Jajajajaja.”
Ich drücke ihm einen Schein in die Hand, sage, wie viel es ist, zögere, bin unentschlossen und sehe ihn unsicher von dannen ziehen.
„Ich bin so stoned“, murmelt der schlanke Archie.
Lily, die gerade noch neben mir saß, ist verschwunden. Wir sitzen wie Hühner auf der Stange auf den Steinstufen der Ghats und wenige Meter vor uns strömt breit der Ganges. Den Fluss mit der Seele sehen. Alle Ängste sind desertiert. Es muss sehr warm sein. Hin und wieder läuft jemand vor uns durchs Bild. Ich bewege meinen Arm in Richtung Archie: „He, wo ist Lily?”
„Oh – ist – sie – nicht – da?”
„Ich – weiß – es – nicht.“
Ein längeres zeitlupenhaftes Frage- und Antwortspiel folgt.
Niemand kümmert sich wirklich ernsthaft um Lilys Verschwinden.
Während wir in einem beständigen Dröhnen versinken und unsere Hirne wellenartig durchgeknetet werden, taucht Lily vor uns auf und legt Blumenkränze um unsere Hälse. Ein Ruck befördert Achtundsechziger-Segmente durch die Zeit. Die Freude über Lilys Überraschung rüttelt uns auf, wir kichern unkontrolliert, ein verkrüppelter Bettler bleibt schief vor uns stehen, einen hölzernen Stab als Krücke unter eine Schulter geklemmt. Er hält den Kopf gesenkt und streckt uns eine geöffnete Hand hin. Endlich gibt Lily dem Mann ein Geldstück und er geht weiter. In der Nähe ertönen vielerlei Klänge. Ein bisher unbemerktes, erleuchtetes Gebäude schwebt schräg über uns.
„Ist dies eine Kneipe?”
„Ja, ich denke schon”, sagt Lily und weiß genau, dass dem nicht so ist.
„Vielleicht kriegen wir dort etwas zu trinken.”
„Ja, wahrscheinlich. Sollen wir?”
Es ist ein Tempel. Glücklicherweise versinke ich in bunten Phantasien und vergesse das Vorhaben.
Ein traumhafter, feengleicher Tanz im Wirrwarr von Godaulias uralten Gassen beginnt, Raum- und Zeitgefühl sind aufgehoben, während es uns, wie sich übereinander wälzende Welpen, immer wieder zueinander hinzieht. Scarlett kauft Karamellbonbons. Sie verteilt aus vollen Händen, wir greifen glückselig zu und der Genuss des Karamells steigert das Glück meines Indienaufenthalts um ein Vielfaches.
Wir zerstreuen uns in den kleinen Geschäften einer Seitengasse. Bhangverwirrt stehe ich vor einem Laden mit Handarbeiten und trete näher an ein Bündel von Glasperlenketten heran. Verzückt betrachte ich halbdurchsichtige Murmeln, versuche die festgefrorenen Muster zu ergründen, die Augen irrlichtern strahlend von einer bunten Perle zur nächsten. Unerwartet finde ich in eine Gefühlswelt, wunderlicher als irgendwas, fühle, was verloren, längst vergessen, einst achtlos zurückgelassen wurde. Die Murmeln liebevoll durch die Finger gleiten lassen und fasziniert die bunten Steine betrachten. Glasperlenketten sind ein unfassbares Wunder an Schönheit! Entrückt verweile ich in einer der uralten Gassen Godaulias und habe tief Versunkenes wiedergefunden. Das gute, alte, vertraute Kindergefühl, mit dem ich meine Spielzeuge geliebt hatte, ist wieder da. Die anderen umkreisen mich vorsichtig, während ich mich ungläubig umschaue.

Share by: