Die grüne Kuppel

Die Grüne Kuppel

Sie würden ihr Ziel nicht auf dem gewöhnlichen Weg erreichen. Dafür fehlten ihnen die nötigen Mittel. Bereits für die Violette Kuppel musste man viel Geld haben, aber um in einer Grünen Kuppel zu leben, brauchte es unvorstellbare Reichtümer. Niemals würden sie diese aufbringen. Sie und ihre Tochter würden nie grüne Luft atmen! Aber genau das mussten sie. Denn Lara hatte schweres Asthma und der von Sorgenfalten gezeichnete Arzt hatte erklärt, dass ihre Tochter unbedingt eine entsprechende Umgebung benötigte. Nun, sie waren innerhalb von drei Jahren von der Schwarzen zur Grauen Kuppel vorgedrungen. Aber hier steckten sie unweigerlich fest! Weiterzukommen war trotz aller Anstrengungen unmöglich. Zumindest auf dem offiziellen Weg. Sie mussten sich etwas einfallen lassen, denn lange würde Lara in der grauen Luft nicht mehr überleben. Natürlich waren da die Druckkammern. Die Luft darin war violette Luft, die bereits um vieles besser war als graue. Aber sie musste vierzig Stunden arbeiten, um ihrer Tochter eine Stunde Erleichterung zu verschaffen. Und nach nur einer Nacht, in der Lara graue Luft atmen musste, ging es ihr so schlecht, dass ihr Gesicht blau anlief.
Die am nächsten gelegene Region mit grüner Luft hieß Bodensee. Gigantische Kuppeln überspannten die entsprechenden Gebiete. Im Jahr 2324 wurde die erste Kuppel errichtet. Darin befand sich eine ausreichende Menge an Pflanzen, die eine exzellente Luftqualität garantierten. Aber es konnten natürlich stets nur eine begrenzte Anzahl Menschen in solch einer grünen Oase leben, der kostbare Raum war limitiert. Ein perfides System, welches den Reichen ein gesundes Dasein ermöglichte und deren Lebenserwartung gegenüber dem Rest der Menschheit erhöhte. Ein großer Teil der Beiträge, die entrichtet werden mussten, um die herrliche Luft zu atmen, wurde aufgewendet, um unberechtigte Eindringlinge abzuhalten. Die grünen Zonen waren sehr reich und damit äußerst mächtig: Sie wurden zu gut gesicherten Festungen! Auf normalem Weg würden sie nie Zugang bekommen! Also mussten sie eine andere Möglichkeit finden. Sie durften nicht aufgeben! Laras Leiden war ihr jeden Tag eine qualvolle Mahnung und unnachgiebige Forderung.
Niemals würden sie genug Geld besitzen, um auch nur einen Tag ihres Lebens grüne Luft atmen zu dürfen. Nicht einmal eine grüne Stunde würden sie sich leisten können. Die violette Luft in der Druckkammer war bereits mehrfach besser als graue Luft. Es war ihr unmöglich, sich vorzustellen, wie die grüne Luft duften würde, welch ein Genuss es sein musste, sie einatmen zu dürfen. Ebenso unvorstellbar wie die Tatsache, dass die natürliche Umgebung vor wenigen Jahrhunderten auf der gesamten Erde grüne Luft gewesen war. Eine Welt ohne Kuppeln. Die violette, graue oder schwarze Luft hatte es damals nur in einigen Großstädten gegeben. Man hatte von Smok gesprochen, wenn die Luft bei ungünstigen Wetterverhältnissen schmutzig und dunkel wurde. Heute war das für den überwiegenden Teil der Menschheit der Normalzustand.
Illegal in eine Grüne Kuppel einzudringen war nahezu unmöglich. Die Erfolgsquote lag bei 1 zu 1.000.000 – und wem es dennoch gelang, der wurde rasch aufgespürt und in die berüchtigte und weit entfernte schwarze Luftregion Dystopia abgeschoben, aus der es kein Entkommen gab. Sie musste einen anderen Weg gehen: Sie plante jemanden zu finden, der ihr helfen würde – und sich innerhalb der Kuppel befand. Nur wie konnte sie diese Person überzeugen, ihr zu helfen? Gerade ihr und keinem anderen in dem Heer aus Verzweifelten.
Es erschien ihr grausam, aber sie wusste keinen anderen Weg: Sie musste jemanden innerhalb der Grünen Kuppel finden, dessen Tochter gestorben war, die in etwa gleichalt gewesen war wie ihr leidendes Kind. Bei einem Privilegierten, dem bereits selbst solch ein Unglück widerfahren war, würde sie auf Anteilnahme und Interesse hoffen können. Es war ein Plan, der ihr missfiel, aber welch andere Chance hatte sie schon – und sie wusste, sie würde alles für ihre leidende Tochter tun. Alles! Ein Blick auf Laras blaues Gesicht genügte. Der rasselnde, mühsame Atem quälte sie so, dass sie sich seit Jahren immer wieder dabei ertappte, wie sie die Atemzüge ihrer Tochter mit ihren eigenen synchronisierte und versuchte selbst tiefer Luft zu holen, um Lara Erleichterung zu verschaffen. Natürlich vergeblich. Jedes einzelne Mal, wenn sie sich dabei ertappte, war sie verzweifelt. Wie viele Nächte hatte sie wachgelegen und war Atemzug für Atemzug dem schleppenden Keuchen ihrer Tochter gefolgt – und hatte die Ungerechtigkeit der Welt verflucht!
Lange suchte sie vergeblich, bis sie einen Hacker aufspürte, dem sie Lara vorstellte. Er recherchierte gründlich und nach sieben qualvollen Monaten, in denen sie sich nie sicher war, ob Lara überleben würde, fand er endlich ein reiches Paar, dessen Tochter kürzlich verstorben war. Der Hacker stellte den Kontakt her und schließlich folgte eine Einladung in die Bodensee Kuppel. Das Paar war so reich, dass es sich leisten konnte, für Mutter und Tochter den Gastaufenthalt zu bezahlen.
Es war der glücklichste Moment ihres Lebens, als Lara und sie das erste Mal grüne Luft atmeten. Es waren unvergleichliche, kostbare Augenblicke, die eine Ewigkeit beinhalteten. Vergeblich versuchte sie diese wertvolle Zeitspanne der Ankunft, der ersten Atemzüge, festzuhalten. Nach einer Woche verschwand die blaue Farbe von Laras Lippen und es erschien ein ungekannter Glanz in ihren Augen. Dies war die größte Freude ihres Lebens! Der Alptraum hatte ein Ende gefunden; nur war da immer noch die abscheuliche Angst, dass sie dieses Paradies irgendwann wieder verlassen müssen.
Die Minuten und Tage rasten dahin, doch das Glück schien so flüchtig und fragil. Sie hatten nicht darüber gesprochen, wie lange sie bleiben dürfen und sie traute sich nicht danach zu fragen. Sie wollte keine Gewissheit über die Dauer ihres Glücks erhalten. So konnte sie weiterträumen und hoffen, dass dieser Aufenthalt nie enden würde.
Sechs Monate lebten sie bereits hier. Mit Argwohn und Freude sah sie, wie das Paar jeden Tag mehr Gefallen an Lara fand. An einem Abend, Lara schlief bereits, verhielten sich die Gastgeber anders als sonst und sie fürchtete, es würde sich etwas Entscheidendes ereignen.
Sie erhielt ein Angebot: Lara durfte bleiben. Es gab nur eine Bedingung. Für sie selbst stand ein Fluggefährt bereit, dass sie nach Dystopia, in die Zone ohne Wiederkehr, bringen würde. Sie wollten Lara für sich. Ganz für sich allein. Sie hatten sie gerade eben gefragt, ob sie bereit sei, dieses Opfer zu bringen. Die Endgültigkeit der Entscheidung ließ sie auf dem Sofa, das mitten auf der Terrasse stand, erstarren. Vor ihr erstreckte sich das kostbare, leuchtende Wasser des Sees. Noch konnte sie mit jedem Atemzug die herrliche Luft einsaugen. Wie viele dieser Augenblicke waren ihr noch vergönnt? Eintausend? Hundert? Wie in Trance nickte sie und erhob sich. Ein letzter Blick über die Idylle: Sanfte Wellen, das Vogelgezwitscher und diese köstliche Frische – und ganz weit oben das Dach der Kuppel, hinter der ...
Und abermals ging alles sehr schnell. Ungelesen unterschrieb sie ein Dokument. Ihr eigenes Schicksal drohte sie zu überwältigen, denn niemand überlebte lange in der ewigen schwarzen Zone Dystopia. Sie schien zu schwach, es zu ertragen. Alles drehte sich, auf dem Wasser wirbelten tausend funkelnde Sterne, überall leuchtend helles Grün; und die sanften, harmonischen Geräusche, der sie wie selbstverständlich umgebenden Natur. Benommen schleppte sie sich die wenigen Meter von der Terrasse zu dem Fluggefährt. Wohlweislich stütze der Pilot sie. Er legte ihr den Gurt an, den sie selbst nicht lösen konnte. Sie schloss die Augen und atmete nochmals tief ein. Diesen Augenblick musste sie festhalten! Dort oben, wenige Meter entfernt, schlief friedlich und leise atmend ihre Tochter.
(Erstmals erschienen im NUN4, Wildwuchs. Ein Magazin für Kreuzlingen und Konstanz.)
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