Die Halskette

Die Halskette

Kapitel 1. Mexiko: Vor der Mauer

„Mami, wann dürfen wir zurück?“
„Bald, meine Süße.“
„Im Zelt ist es so heiß.“
„Morgen darfst du wieder in einem Bett schlafen.“
„Warum geht Daddy immer zu der Mauer?“
„Weil wir heute Nacht dort spielen.“
„Mit Lampions?“
„Nein, aber wir müssen ganz leise sein.“
„Verstecken wir uns wie bei Hide-and-seek?“
„So ähnlich.“
„Au ja!“
„Wir werden nur deine Kette in ein Tuch wickeln, weil sie das Licht reflektiert.“
Sie gingen, das Kind an den Händen haltend, zwischen den dunkel Gekleideten. Als die Ersten losrannten, nahm ihr Vater Angelina auf die Arme. Dennoch fielen sie rasch zurück. Als sich alle auf den Boden warfen, weil irgendwo ein Licht aufblitzte, sank er in die Knie und kippte auf die Seite. Angelina weinte, weil er sie zu fest an sich gedrückt hatte. Er spürte, wie ihre kleinen Hände versuchten, seine Finger einzeln von ihrem Mund zu lösen. Er flüsterte so lange auf Angelina ein, bis sie sich beruhigte.
Die Frauen und Männer vor ihnen waren weit entfernt, als auf einem Hügel mehrere Fahrzeuge auftauchten. Ein Schuss zerriss die Stille und das Gebell von Hunden setzte ein. Scheinwerfer durchlöcherten die schützende Finsternis; es waren die glühenden Augen von summenden Rieseninsekten, welche böse durch die Nacht starrten. Knappe, dröhnende Kommandos waren zu hören und wenig später sahen sie eine Kolonne von Silhouetten-Menschen, die, mit hinter den Nacken verschränkten Armen, aufgereiht wurden. Angelina nuschelte ängstlich: „Daddy, das ist ein komisches Spiel. Zuhause sagst du immer, ich wäre zu klein dafür.“

Kapitel 2. USA: Vor der Mauer

Marvin war immer wieder dorthin gefahren. Er hatte die Patrouillen gesehen und wie sie all die Bewegungsmelder und Wärmekameras installierten. Ihre Ranch lag im Grenzgebiet und seit sie die Mauer an anderen Stellen erweitert hatten, kamen mehr über ihr Land.
„Einen Sommer habe ich vor diesen Mauern verbracht und nie gewusst, warum es mich hierherzieht“, murmelte Marvin. „Und jedes Mal gedacht: Was für eine verrückte Welt!“
„Bis du deinen gutmütigen Kumpel überredet hast.“
„Als Blake und ich einen Toten entdeckten, wusste ich es. Es ist eine einfache Wahrheit: Auf unserem Land war ein Mensch verdurstet.“
Kyle schaute sich ängstlich um: „Wenn er uns erwischt, schlägt er uns halbtot.“
„Vielleicht schießt er auch.“
„Sehr beruhigend.“
„Er hat den Schreihals nicht nur gewählt, er glaubt immer noch an ihn! Ich kann es manchmal gar nicht glauben, dass Blake mein Vater ist.“
„Frag doch deine Mutter, wie es dazu kam, wenn du im Herbst zu ihr ziehst, ein Studium beginnst und all das hier hinter dir lässt. Hast du es Blake endlich gesagt?“
„Nein. Ich kann nicht mit ihm darüber reden. Ich werde, sobald es soweit ist, einfach verschwinden. Seit Mutter weg ist …“
„Und wer deponiert dann die Wasserflaschen?“
„Mein bester Freund Kyle.“
„Ich gehe auch weg. Schon vergessen?“
Kyle zuckte zusammen, sprang zum Wagen, griff nach dem Fernglas und drehte am mittleren Stellrad: „Blake!“
„Und?“
„Er steht nur da! Noch!“
„Dann lass uns von hier verschwinden!“
„Ich hoffe nur, er hat uns nicht erkannt!“
Als sich Marvin dem Haus näherte, brannte kein Licht. Sie waren also lange genug in der Bar gewesen. Der mexikanische Grenzbeamte hatte „Bienvenidos!“ gerufen und sie lachend durchgewunken. Einfach so!
Er schlich durch den großen Raum, bis aus dessen Untiefen seine Stimme grollte: „Warum?“
Er saß sicherlich seit Stunden im alten Sessel. Wie hatte er nur glauben können, so davonzukommen? Blake war noch nie einer Auseinandersetzung aus dem Weg gegangen. Draußen erstreckte sich im fahlen Schimmer des Mondlichts das weite Land.
„Weißt du noch, wie wir den toten Mann gefunden haben?“, provozierte Marvin.
„Du weißt, was er dazu sagt!“
„Ja.“
„Sie sollen zuhause bleiben.“
„Haben sie eine Wahl?“
„Dies ist keine Schmetterlingswelt, in der jeder an allen Blüten naschen kann, wie es ihm gefällt.“
„Vielleicht verdurstet dort draußen gerade jetzt wieder jemand auf deinem Land?“
Blake ließ sich Zeit mit seiner Antwort, die aus dem Halbdunkel kam.
„Das sollte nicht sein.“
„Wie sollte es dann sein?“
„Sie müssen die Patrouillen verstärken, damit sie gar nicht erst rüberkommen.“
„Und das ist die Lösung?“
„Jedenfalls hört ihr damit auf!“
„Ist das ein Befehl?“
„Es ist immer noch mein Land!“
Der Drang, die Treppe nach oben zu stürmen, wurde beinahe übermächtig.
„Ich gehe in die Stadt und studiere.“
„Welche Stadt? Aber nicht …?“
„Doch!“
„Ich wusste, dass sie keine Ruhe gibt!“
„Es ist ganz allein meine Entscheidung!“
„Und hier soll in ein paar Jahren wohl nur noch Wüste sein?“
Marvin schwieg und wartete.
„Wirst du zurückkommen?“
„Nein.“
„Und wer kümmert sich dann um die da draußen?“
„Gute Nacht“, sagte Marvin und ging auf die Treppe zu.

Ein verschwenderisches Frühstück stand auf dem Tisch. Das erste Mal, seit Mutter gegangen war.
„Gut geschlafen?“, brummte Blake.
„Nein.“
„Hast du also doch ein Gewissen?“
„Ich bin im Reinen mit mir.“
Sie stierten sich an, bis Blake Kaffee eingoss und knurrte: „Du kannst damit weitermachen.“
Als Marvin nicht reagierte, fragte er: „Oder will mein feiner Sohn studieren, während sie hier verdursten?“
Marvin betrachtete lange den gedeckten Tisch, bis er rief: „Du hast gewonnen. Bist du jetzt zufrieden?“
Marvin setzte sich widerwillig. Er hatte sich wohl gerade dazu entschieden – hierzubleiben.
Blakes Stimme riss ihn aus seinen trüben Gedanken: „Bald ist das eure Welt und wir Alten haben dann wohl nicht mehr viel zu sagen. Trotzdem wäre ich froh, wenn du mich ab und zu besuchst, und mir hilfst, die Wasserflaschen zu deponieren.“
Er sah überrascht seinen Vater an und spürte, wie sich in ihm wohlig die Erleichterung breit machte. Marvin feixte: „Dann sitzt du immerhin nicht so oft im Sessel und grübelst.“
Nachdem Marvin in die Stadt gezogen war, fand Blake, als er eine Stelle überprüfte, an der sie Wasserflaschen deponiert hatten, eine Kette, die um mit Steinen geformte Buchstaben gelegt war, die zwei schiefe, aber deutlich erkennbare Worte bildeten: Thank you.
Share by: