Der neue Gregory

Der neue Gregory

Vor zwei Monaten hatte ein erstes Orientierungsgespräch stattgefunden. Damals war ihr alles noch unwirklich erschienen und an diesem Morgen war die Operation tatsächlich erfolgt. Professor Baker saß in einem beeindruckenden Ledersessel. Seine Erläuterungen erfolgten mit solch ruhiger Stimme, als ob er Kindern Märchen vorlesen würde, so dass Lucy sich fragte, wie ein Mann, der so beschäftigt war, und solch eine Verantwortung trug, jemals so ruhig und entspannt sein konnte. „Es kann eine kurze Phase der Orientierungslosigkeit geben. Das ist durchaus normal. Es gibt jedoch auch Fälle, in denen übergangslos das bisherige Leben aufgenommen wird. Aber dies ist eher die Ausnahme. Es dauert in der Regel ein bis zwei Wochen, bis die Behandelten sich überwiegend an ihre alte Umgebung gewöhnt haben.“
„Überwiegend?“, fragte Lucy ängstlich.
„Ja. Also, das ist, was wir aus den Nachgesprächen und Untersuchungen wissen.“
„An was gewöhnen sie sich denn nicht mehr?“
„Hier fehlen noch entsprechende Studien. Jeder Fall liegt anders.“
„Aber – was könnte denn anders sein? Gibt es Beispiele?“
Professor Baker lächelte. „Ich verstehe ihre Beunruhigung. Man möchte natürlich die gleiche Person zurückerhalten. Eine Patientin berichtete gestern, vielmehr erwähnte dies ihr Mann, dass sie zuvor eine passionierte Kaffeetrinkerin gewesen sei – aber jetzt keinen Kaffee mehr anrühre und stattdessen lauwarmes Wasser trinke. Sie haben keine Verwendung für die Kaffeemaschine mehr, weil auch er keinen Kaffee trinkt.“
Lucy lächelte nervös: „Wenn es nur das ist! Mein Mann trinkt nur eine Tasse Kaffee am Morgen. Aber gibt es auch schwerwiegendere Fälle, ich meine damit größere und ausschlaggebende Veränderungen?“
Baker wischte mit einer großzügigen, waagrechten Handbewegung Lucys Sorgen vom Tisch: „Machen sie sich bitte keine Sorgen, morgen ist ihr Mann wieder zuhause und sie werden sich selbst davon überzeugen, dass er ganz der Alte ist und da er sowieso nur eine Tasse Kaffee trinkt …“ Er lächelte, als ob alle Probleme der Welt nur aus verändertem Kaffeekonsum beständen. „Und sie wollen ihn noch immer nicht sehen?“
„Nein, aber bitte verständigen sie mich, sobald er soweit ist. Ich möchte ihn selbst zurückbringen – in unser Haus.“
„Das ist doch selbstverständlich“, bekräftigte der Professor Lucys Anliegen.
Lucy konnte nicht verhindern, sich Gedanken zu machen. Sie sollte vertrauen, dies wäre sicherlich der einfachere Weg. Natürlich war Gregorys Krebserkrankung der größte Schock ihres Lebens gewesen. Welch Erleichterung es gewesen war, als sicher war, dass ein neuer Körper zur Verfügung stand und ein Übertrag noch rechtzeitig vorgenommen werden konnte.
„Auf zu neuen Ufern“, hatte Gregory gerufen, als er sich für die Operation entschieden hatte – die seine einzige Chance war – und Professor Baker hatte zufrieden, geradezu siegessicher gelächelt. Und nun verabschiedete er sich vor seinem Büro von Lucy und schritt mit fliehenden Schößen eines leuchtenden, weißen Kittels dahin. Natürlich! Ein Chirurg, der diese neue Operation beherrschte, war ein äußerst gefragter Mann. Dass er sich überhaupt Zeit für ihre naiven Fragen und lächerlichen Ängste genommen hatte. Menschen strömten zu Tausenden in Bakers Klinik, ließen Hirn-Uploads vornehmen, um für alle Fälle gewappnet zu sein. Die Operationen wurden derzeit nur schwerkranken Menschen gestattet, weil die Kapazitäten begrenzt waren. Aber es gab emsige Bestrebungen von Alten und Unzufriedenen, dies zu ändern. Ihr Verlangen, in einen gesünderen und jüngeren Körper überzuwechseln, war immens. Das Ganze hatte gerade erst begonnen. Das Fassungsvermögen der Klinik sollte innerhalb von wenigen Jahren um das Tausendfache erhöht werden.
Das eiförmige Fahrzeug hielt vor dem Haus. Der Abstand zum Zaun und der Öffnungswinkel der Türe waren perfekt. Lucy schaute nicht genau hin. Sie fixierte stattdessen die Orchidee, hinter der die Welt flimmerte. Eine Gestalt stieg aus und hatte im nächsten Moment den Knauf der Gartentüre in der Hand. Es sah aus, als würde Gregory wie jeden Tag von der Arbeit kommen und nicht aus einer Klinik, in der er per Hirn-Upload und Hirn-Download in einen Ersatzkörper gewechselt hatte.
Als es läutete, löste sie sich aus ihrer Erstarrung und rannte aufgeregt zur Tür. Ein fremder Mann stand lächelnd vor ihr. Sie schlug die Hände vors Gesicht und brach in Tränen aus. Er umarmte und tröstete sie. Er sah nicht aus wie Gregory, aber er handelte wie Gregory: Es musste Gregory sein! Er hatte nur die Hülle gewechselt, wie man sich vor einem Abend in der Oper umzieht. Es war ganz einfach: Er war Gregory! Zwischen Schluchzern stammelte sie: „Du bist ganz der Alte. Vielen Dank, lieber Gott.“ Sie löste sich aus seinen Armen, wagte zögerlich einen ersten flüchtigen Kuss, während ihr Gesicht noch tränenüberströmt war. Im nächsten Moment lachte sie befreit auf: „Du bist wirklich wieder da, mein lieber Gregory. All meine Ängste sind so unnötig gewesen.“
Gregory nahm nach zwei Tagen seine Arbeit wieder auf. Eigentlich hatten sie geplant, dass er mindestens eine Woche damit warten würde. „Wieso sollte ich es noch länger hinausschieben? Das macht mich nur nervös.“
„Aber dann hätten wir endlich Zeit für uns.“
„Ich will einfach wissen, ob dort alles so ist wie zuvor – und ich bei der Arbeit noch zurechtkomme.“
„Also hier kommst du ja wunderbar zurecht, besser als je zuvor. Es kommt mir vor, als hätte ich einen zwanzig Jahre jüngeren Gregory“, lachte Lucy.
„Na ja, mein Körper ist ja auch ziemlich neu.“
Als Gregory seine Arbeit wieder antrat, war das Projekt neuer Körper dabei, die letzte Hürde zu nehmen. Als er am Abend des ersten Arbeitstages nach Hause kam, fragte Lucy: „Und?“
„Alles gut. Es hat sich nur viel Arbeit angehäuft. Eigentlich wollte Max diese zumindest zum Teil erledigen. Aber er hat nichts gemacht. Gar nichts. Also ist wirklich alles beim Alten.“ Gregory hatte auch früher oft scherzhaft über die Bequemlichkeit seines Chefs Max gesprochen. Es war wirklich alles wie davor. Fast war Lucy ein wenig enttäuscht. Dass die Wissenschaft so perfekt funktionierte, war unglaublich. Vielleicht konnte sie deshalb auf einen kleinen Test nicht verzichten.
„Oh, ich habe die Dessertschalen vergessen. Würdest du sie bitte holen, damit ich das Tiramisu einfüllen kann?“ Augenblicke später kam Gregory mit den Dessertschalen zurück und lächelte ironisch.
„Was ist?“, fragte Lucy.
„Nun, habe ich den Test bestanden?“
„Entschuldige! Verzeih mir bitte.“
„Du hattest einfach Angst, ob ich ganz der Alte bin und noch alles weiß.“
„Und du hast es sofort gemerkt.“
„Du hast noch nie vergessen, die Dessertschalen zu füllen. Du hast dich nicht gerade geschickt angestellt.“
„Aus mir wird wohl nie eine Detektivin.“
„Dafür bist du die beste aller Ehefrauen.“
„Du musst es wissen, lieber Gregory. Wir sind schließlich seit zweiundzwanzig Jahren verheiratet.“
Eine Woche später fragte Lucy: „Schmeckt es dir?“
„Ja, natürlich. Du bist eine fabelhafte Köchin.“
„Es ist nur, weil – früher hast du oft gebrummt beim Essen.“
„Ja, und dich hat es immer gestört.“
„Aber du hast es dennoch getan.“
„Und jetzt lasse ich es und du bist immer noch nicht zufrieden.“
„Natürlich freue ich mich – also zuhause hatte ich mich daran gewöhnt, aber im Restaurant fand ich es manchmal etwas peinlich. Weißt du noch, als wir mit meiner Chefin und ihrem Mann beim Dinner waren?“
„Natürlich! Wieso sollte ich mich nicht erinnern?“, bestätigte Gregory und schien leicht gereizt. Dies kannte sie nicht an ihm. Aber es war leicht zu erklären: Er war durch ihre ständige Fragerei genervt. Sogar der geduldigste Mann würde von dem permanenten Registrieren einer Frau, die jede seiner Bewegung verfolgte, und mit jenen des früheren Gregory verglich, genervt sein.
„Also, ich bin froh, dass du es nun nicht mehr machst, ich wundere mich nur“, sagte Lucy. Gregory brummte, als er die nächste Gabel voll Spaghetti in den Mund geschoben hatte und sie lachten. Eine Sekunde lang erschien es ihr, als wäre Gregorys Lachen nicht ganz so ehrlich und spontan wie sonst. Sie musste nun wirklich damit aufhören, sonst entwickelte sie eine Paranoia und würde Gregory ernsthaft auf die Nerven gehen.
Nach drei Wochen verfingen sie sich wie zufällig das erste Mal in einem kleinen Konflikt. Heute ist der erste Donnerstag des Monats! Denkt er nicht daran? Oder weiß er es nicht mehr?
„Heute ist ja Billardabend!“
„Ich weiß.“
„Dann musst du aber doch los.“
„Ach, ich gehe heute nicht.“
„Aber warum denn nicht?“
„Im Grunde sind das lauter – verzeih – Langweiler.“
„Aber diese Langweiler kennst du seit fünfundzwanzig Jahren und hast dich immer auf eure Abende gefreut. Als ich in unserer Anfangszeit kritisiert habe, dass du ständig Billard spielst, hast du gesagt, diese Liebe sei immerhin älter als unsere und man solle alte Lieben nicht geringschätzen.“
„Nun, jetzt langweilen sie mich eben und ich habe keine Lust zu gehen. Oder willst du mich heute Abend loswerden?“
„Nein, natürlich nicht. Soll ich für dich absagen?“, fragte Lucy.
„Habe ich schon gemacht.“
Während eines Abendspaziergangs blieben sie am Schänzle stehen. Der Seerhein bildet dort eine kleine Bucht, hinter der das Gottlieber Schloss, eine ehemalige Wasserburg mit zwei Türmen, zu sehen ist und der Schweizer Seerücken eine bewaldete Kulisse bietet. Lucy lachte über ein Blässhuhn, das empört fiepte, weil ein Kind immer wieder an dem Seil zog, auf dem es saß.
„Gregory, schau doch! Das Blässhuhn. Wie es sich beschwert! Und die Ente auf demselben Seil schläft seelenruhig weiter.“
„Hmmm.“
Hast du das nicht gesehen?
„Nein.“
„Früher hast du alles um dich herum gesehen und jetzt läufst du durch die Welt und siehst nichts.“
„Nicht gerade nichts.“
„Aber früher …“
„Früher, früher! Hör mir auf mit früher! Früher ist vorbei! Es wäre schön, wenn du das endlich akzeptierst!“
„Aber Gregory, ich …“
„Früher war dies oder jenes – wie es war! Vielleicht war auch ich früher anders?! Aber jetzt ist es, wie es ist!“
„Bitte nicht so laut, Gregory.“
„Das nervt einfach! Du überwachst jede meiner Bewegungen und prüfst, ob sie anders sind als früher.“
Ein halbes Jahr der schleichenden Veränderungen war vergangen, seit Gregory – der neue, der alte Gregory – zurückgekehrt war. Gregory kam indessen immer später von der Arbeit nach Hause.
„Hast du viel zu tun?“, fragte Lucy manchmal.
„Ja“, sagte Gregory und verlor nie ein weiteres Wort.
„Hat sich etwas geändert?“, fragte Lucy an einem Abend.
„Ja, dieser Idiot lädt mir immer mehr seiner Arbeit auf.“
„Wen meinst du?“, fragte Lucy mit weit aufgerissenen Augen. Noch nie hatte Gregory jemanden auf diese Weise beschimpft.
„Mein Super-Chef Max!“
„Aber ihr seid doch all die Jahre wunderbar miteinander ausgekommen. Du hast dich doch immer gefreut, weil er so zufrieden mit dir ist.“
„Mag sein. Aber Situationen in Firmen ändern sich. Übrigens – vielleicht ist das ein guter Zeitpunkt, es dir zu sagen – ich habe vor zu kündigen. Und ich habe schon etwas Neues in Aussicht.“
„Kündigen? Und etwas Neues! Aber was denn?“
„Geduldige dich noch ein wenig, ich sage dir mehr, sobald es soweit ist.“
„Aber …“
„Bitte, Lucy.“
An diesem Abend schien endlich wieder alles wie früher. Sie lagen auf dem Sofa und schauten zusammen einen alten Film an. Irgendwann war sie an ihn gekuschelt eingeschlummert. Sie liebte es, auf dem Sofa einzuschlafen. Als sie blinzelnd die Augen öffnete, was dann meist die Einleitung war, um ins Bett überzuwechseln, brachte ein Mann einen anderen mit einem Bolzenschussgerät um. Eine äußerst brutale Szene. Wieso schaute sich Gregory das an?
„Das ist ja schrecklich. Ich gehe ins Bett. Kommst du mit?“
„Gleich.“
Gregory kam erst lange danach ins Bett.
„Hast du den furchtbaren Film noch angeschaut?“, murmelte Lucy.
„Ja.“
„Warum schaust du nur so brutale Sachen an? Was findest du denn neuerdings daran?“
„Schlaf jetzt, Lucy. Es ist spät.“
„Du knuddelst gar nicht mehr mein Ohr“, murmelte Lucy.
„Es hat dich doch immer gestört.“
„Was dich nicht davon abgehalten hat, es immer wieder zu tun.“
„Stimmt. Und du hast meine Hand stets sofort weggeschoben.“
„Keine Sorge, ich vermisse das nicht – nur …“
„Nur was?“
„Was meinst du? Was sonst ist noch anders?“
„Ist dir etwas aufgefallen?“
„Nein. Ach, im Grunde bin ich ziemlich erleichtert, dass wir keinen entscheidenden Unterschied feststellen konnten, aber – bist du auch ganz ehrlich mit mir, Gregory?“
„Ich denke schon.“
„Aber es ist doch seltsam, dass du das mit meinem Ohr nicht mehr machst.“
„Sieh es doch so: Es ist immerhin eine Verbesserung, da es dich immer gestört hat.“
„Aber warum ist manches anders, wenn du doch unverändert bist?“
„Das ist eine gute Frage. Vielleicht aber eher eine Frage für Experten.“
„Vielleicht sollten wir einen Termin mit Professor Baker vereinbaren? Einfach so.“
„Vielleicht.“
Einen Monat später sagte Gregory: „Übrigens, ich sollte dir doch Bescheid geben, bezüglich des neuen Jobs.“
„Ja! Und?“
„Ich habe unterschrieben.“
„Du hast die Stelle bekommen“, jubelte Lucy. „Gratuliere, mein Schatz. Aber jetzt sag schon, was es ist.“
Gregory nannte den Namen eines Unternehmens und betonte, dass er dort eine leitende Stelle einnehmen werde.
„Die Firma kenne ich gar nicht.“
„Sie ist auch nicht hier ansässig.“
„Nein?“, fragte Lucy und trat einen kleinen Schritt zurück. Gregory hob ein wenig das Kinn und musterte Lucy prüfend: „Ich werde umziehen.“
„Aber dann sehen wir uns ja nur noch am Wochenende!“
„Lucy, ich glaube, wir müssen reden …“
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