Der Schönheitssucher

Die Indienreise der wundersamen Begegnungen
(Auszug aus dem 1. Teil. Spielt vor der Abreise nach Indien in Frankreich und Deutschland.)

Der Schönheitssucher

Am Ende geht alles immer sehr schnell. Leonora begleitete mich zur Résidence Jussieu. In einem rostroten R4 war ein Platz auf der schaukelnden Rückbank für mich reserviert und als Treffpunkt eine Telefonzelle genannt worden. Vor einer Stunde saßen wir noch in einem Bistro, der Kellner brachte ihr einen Café au Lait und mir einen Pastis. Am Nebentisch residierte ein Paar mittleren Alters. Der gut gekleidete Herr sah immer wieder zu uns herüber, die wir uns so wehmütig-intensiv zugewandt waren. Es war die Abschiedsstunde nach einem zweiwöchigen Zusammensein. Davor hatten wir uns zu lange nicht gesehen. Der Monsieur am Nebentisch betrachtete uns so offensichtlich fasziniert, dass ihn schließlich seine Frau anstieß und zischte: „Benimm dich!“; während er wohl in Gedanken rezitierte: „Ach, wer bringt die schönen Tage, – Jene Tage der ersten Liebe, – Ach, wer bringt nur eine Stunde – Jener holden Zeit zurück! …“

Eigentlich sollte es ein ruhiger Abschied in unserem Lieblingsbistro werden, das sich im 4. Arrondissement befand, in dem Leonora mit ihrer Schwester in einer Eineinhalbzimmerwohnung lebte. Aber nach einer Viertelstunde war uns beiden klar, dass wir nochmals in ihr Apartment mussten.

Ihre schmale Armbanduhr, die so wunderbar ihr goldbraunes Handgelenk umschloss, lag auf der Glasplatte des schwarzen Nachttischs. Als ich den Kopf drehte, sah ich, dass es noch dreißig Minuten bis zur Abfahrt waren. Leonora glitt aus dem Bett und schwang ihren biegsamen Körper in Richtung Duschzelle. Natürlich! Nie würde sie darauf verzichten, auch wenn ringsum die Welt unterginge. Meinen Hinweis, dass ich losmüsste, ignorierte sie, indem sie mir lachend über die Schulter hinweg zurief, dass ich daran zuvor hätte denken müssen. Ich hielt ihre Armbanduhr zwischen den Fingern, vermisste Leonora bereits neben mir, fühlte mich einsam und verloren ohne sie und dachte: „Na und? Dann bleibe ich eben bei ihr.“ Etwas anderes wollte ich sowieso nicht, als mit ihr zusammen sein. Aber für drei war hier nicht genügend Platz. Und Leonora bestand hartnäckig darauf, dass ich mein Studium endlich abschloss, damit wir eine gemeinsame Zukunft realisieren konnten. Es fehlten nur noch fünf lächerliche Wahlpflichtfächer und die Diplomarbeit. Wer das Studium soweit bewältigt hatte, für den sollte das eigentlich nichts Unmögliches sein. Eigentlich! Denn ich hatte so gar keine Lust mehr auf dieses Studium! Die Diplomarbeit in einer Firma anzugehen, mich sechs Monate lang mit irgendwelchem technischen Kram abzugeben, erschien mir schwieriger, als den Atlantik im Ruderboot zu überqueren! Und wie sollte ich es währenddessen ohne Leonora aushalten? Sie war der einzige Mensch, der die öde Alltagswelt in spürbare Substanz zu verwandeln imstande war! Endlich hatte ich durch sie mein eigentliches Dasein gefunden, natürlich in Frankreich und unter anderen Umständen, als es in meinem liebenswürdig-langweiligen Studienort, dem ich längst überdrüssig war, je möglich gewesen wäre.

Leonora kam aus dem Bad, streifte mich und die Reisetasche zu meinen Füßen mit einem ironischen Blick. Ich war mir ihrer nie sicher und das war es wohl, was ich im Zusammenleben mit einer Frau brauchte, damit es spannend und erregend blieb. Sie dechiffrierte meinen Gesichtsausdruck. „Hast du Angst, dass sie ohne dich abfahren, mein Kleiner? Ist der Treffpunkt nicht bei einer Telefonzelle? Ruf doch dort an und sage, dass wir uns etwas verspäten“, empfahl sie, wandte sich in aller Seelenruhe ihrem Kleiderschrank zu und überließ alles Weitere mir. Kurzentschlossen griff ich zum Telefon – und tatsächlich wurde nach wenigen Klingeltönen der Hörer abgenommen. Das erste Mal rief ich jemanden in einer Telefonzelle an.

Ich hatte bereits meine Reisetasche in den kleinen Kofferraum gequetscht, der Fahrer und seine drei Mitfahrer waren längst zur Abfahrt bereit. Die Hoffnung, dass wir nur zu dritt oder viert fahren würden, war gestorben. Immerhin hatten sie auf mich gewartet, obwohl wir dreißig Minuten zu spät eintrafen.

Endlich stiegen sie ein! Ein letztes Mal wollte ich Leonora küssen, aber sie hielt mein Kinn fest, betrachtete mich prüfend und sagte in mahnendem Tonfall: „Du schließt deine Diplomarbeit ab und kommst zu mir, nicht wahr?“ Während ich zögerte, musterte sie mich eindringlich. „Versprichst du mir das?“ Als ich sie mit großen Augen ansah, meinte Leonora: „Ich kann nicht ewig warten! Beeil dich und bummle nicht herum!“ Nachdem ich verliebt wie kein zweiter Mann auf diesem Planeten nickte, küsste sie mich und gurrte daraufhin versöhnlich: „Du wirst mir sehr fehlen, mein verrückter Deutscher!“
Sie schob mich von sich weg, in Richtung des Renault, dessen Insassen unvermittelt ihre Meinung änderten und ein großes Verständnis entwickelten, nachdem sie Leonora erblickt hatten. Leonora sah mich einen kurzen Augenblick feierlich an, während ich ins Auto knickte: Ihr Gesichtsausdruck war ein schwankendes Pendel, das zwischen Warten-auf-den-Liebsten und Trennung-und-Neubeginn nochmals einen Moment lang stillstand. Als ich die Autotür zuzog, fragte ich mich, ob ich nicht eine kostbare Träne in ihrem makellosen Gesicht gesehen hatte. Dies berührte mich sehr und ich gelobte auf der engen Rückbank, durch das Fenster mit schräg gelegtem Kopf zu ihr aufschauend, so schnell wie möglich zurückzukommen. Nur zweifelte ich daran, ob dies mit Diplom sein würde.

Das Leonora gegebene Versprechen lastete auf mir wie ein Mühlstein. Denn nun musste ich meine geliebte Lebensweise ändern und war umso geneigter, mein Versprechen einzuhalten, je mehr ich Leonora vermisste. Wenn sich innerlich auch alles dagegen sträubte, das Studium wieder aufzunehmen! Leonora war schließlich ausnahmslos das, was meinem Leben fehlte! Und sie war sicherlich keine Frau, die bereit war, das von Spitzweg so simpel und treffend dargestellte Schicksal eines armen Dachkammer-Poeten zu teilen. Sie hatte einige aus ihrer Sicht völlig berechtigte Ansprüche an mich! Es lag an mir, ob ich in ihrer Gegenwart aufleben, mich in ihrer Sphäre in ein glückseliges Wesen verwandeln lassen wollte – ein Wunder, welches nur sie zu vollbringen imstande war.

Andererseits wollte ich jede Chance nutzen, Literat zu werden, um das Ingenieurdasein zu vermeiden. Es war jene Phase des ungebundenen Erkundens der Weltliteratur und ich bewältigte fast jeden Tag ein Buch. Für nichts wollte ich die Beschäftigung mit der geliebten Prosa unterbrechen. Nebenbei übte ich noch einige Jobs aus, um mein Leben zu finanzieren, weil ich auf die mir laut Bafög-Bescheid zustehenden Zahlungen meines Vaters verzichtet hatte. Deshalb waren meine freien Stunden sehr knapp bemessen. Für das Ingenieurstudium blieb daher keine Zeit, vor allem, da ich die Lektüre meiner Lieblingsliteraten allem anderen vorzog. Ich las kreuz und quer, ungeordnet und ausdauernd und sah dies längst als mein eigentliches Studium an.

Dennoch suchte ich Jakob auf, den letzten mir wohlgesonnenen Kommilitonen, um nachzuholen, was ich verpasst hatte. Schließlich hatte das Semester vor Monaten begonnen und ich noch keine einzige Vorlesung besucht. Wenig später saßen wir in meinem Zimmer, denn bei Jakob war zu wenig Platz. Jedoch war ich in jener Phase mehr oder weniger davon besessen, ein in jedem Moment authentisches Leben zu führen. Die komplizierten Prüfungsaufgaben durchzugehen, die überwiegend durch Berechnungen mithilfe der Höheren Mathematik zu lösen waren, erschien mir als Beschäftigung mit etwas, das so rein gar nichts mit mir als fühlendes Wesen zu tun hatte. Also legte ich vorsorglich Mozart auf. Jakob hielt neben mir an dem schmalen Wohnheimschreibtisch aus und versuchte mir im Schnelldurchgang einen Überblick über die Studieninhalte zu verschaffen, die ich mir großzügig zu versäumen erlaubt hatte.

Statt dankbar Jakobs Erläuterungen zuzuhören, hob ich immer wieder den Kopf und lauschte einer Musikpassage, die mir besonders gefiel. Bis Jakob genug hatte! Er raffte übergangslos seine Unterlagen zusammen: „Wir lassen das! Das geht so nicht! Du musst dich endlich entscheiden! Ich habe keine Lust, meine Zeit zu verschwenden!“
„Du hast recht. Du hast ja so recht. Ich will mich wirklich nicht mit diesem Zeug beschäftigen. Es tut mir leid – lass uns was kochen.“

Auch nur eine einzige Vorlesung zu besuchen, schien unvorstellbar. Ich verspürte einen unüberwindbaren Widerstand, nachdem ich eine vier Semester umfassende Studienpause eingelegt hatte. Mit gerunzelter Stirn dachte ich an jenes Versprechen, das ich Leonora gegeben hatte! Vorsorglich packte ich Hermann Hesses Steppenwolf, den ich gerade mit geweiteten Augen aufsaugte, ein und sogleich wieder aus, legte stattdessen ein kleines gelbes Büchlein in meine Tasche und sagte zu meinem Spiegelbild: „Nur falls du das monotone Gefasel des Professors nicht mehr aushältst.“

Erwartungsgemäß langweilte ich mich von der ersten Minute an. Wie viel kostbare Lebenszeit doch in solchen Vorlesungen verschwendet wird! Die Inhalte einer neunzigminütigen Vorlesung könnten oft genug in fünf bis zehn Minuten zusammengefasst werden. Vorsorglich hatte ich mich in die hinterste Reihe gesetzt und schob vorsichtig Joseph von Eichendorffs Aus dem Leben eines Taugenichts zwischen Lehrbuch und Block.

Wie immer beim Lesen versank um mich herum die Welt und so ist es wohl zu erklären, dass irgendwann die nasale Stimme des Professors an mein Ohr drang, unterlegt von erstauntem Murmeln. Im nächsten Moment brach sich die allgemeine Erheiterung ihren Weg, als die Kommilitonen mein verdutztes Gesicht sahen. Ein brüllendes Gelächter umtoste mich, während der Prof im freundschaftlichsten Plauderton meinte: „Oh! Interessant! Ich wusste gar nicht, dass Reclam meine Vorlesung veröffentlicht hat.“
Ich schaute ihn verwundert an. Und wie so oft in solchen Fällen, versuchte ich es im nächsten Moment mit der Vorwärtsverteidigung: „Es ist interessant. Haben sie es schon gelesen?“ Er nahm das Büchlein, welches ich ihm wagemutig entgegenstreckte, warf einen Blick darauf, und rief, sich zuvor den Studenten zuwendend: „Aus dem Leben eines Taugenichts!“

Überlegen lächelnd schaute er sich im Saal um. Offensichtlich amüsierte er sich prächtig! Es waren ausschließlich junge Männer anwesend, die graue, schwarze oder dunkelblaue Kleidung trugen.
Er ließ sich Zeit. Solch ein Amüsement wurde einem schließlich nicht jeden Tag auf dem Silbertablett serviert. Endlich sah er erneut auf mich herunter: „Dann schauen sie nur, dass der Titel nicht ihr Lebensmotto wird!“ Natürlich erntete er gellenden Jubel und einige schauten mich ungläubig an. „Vielleicht studieren sie das Falsche?“, überlegte der Professor laut: „Ein paar Kilometer entfernt von hier, auf dem Gießberg, kann man meines Wissens nach Germanistik studieren. Es ist nie zu spät umzukehren. Aber das ist ihre Sache!“ Mit dem Mut des Verzweifelten, der die Auseinandersetzung längst verloren hatte, rief ich laut aus: „Nun, sagte ich, wenn ich ein Taugenichts bin, so ists gut, so will ich in die Welt gehn und mein Glück machen.“
„Wenn sie fertig sind, würde ich mit der Vorlesung fortfahren.“ Er entfernte sich ein paar Schritte, drehte sich abrupt um und sagte: „Aber nur, wenn es sie nicht stört?“ „Nein, natürlich nicht“, gab ich so entspannt wie möglich zur Antwort und es lachten noch immer einige, die sich gar nicht mehr einzukriegen schienen. Eine beliebte Art des Einschleimens. Jetzt hatten sie wieder etwas, über das sie reden konnten – die elenden und phantasielosen Langweiler!

Der Professor verschanzte sich hinter dem Katheder und irgendeinem Axiom. Er setzte seinen Vortrag fort, als wäre nichts gewesen. Nach der Vorlesung schob ich so lange meine Papiere hin und her, bis der Saal endlich leer war, schlich den Gang zwischen den dicken Mauern entlang, sprang die Treppen hinunter und gelangte endlich ins Freie. Gierig sog ich die frische Luft ein.
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