Das Gespräch

Tante Bella und die Grünpflanzenkommissarin

(Auszug aus der 3. Geschichte "Das Gespräch".)

Das Gespräch

Sordini war der Leiter eines anderen Teams, welches in keinster Weise mit seinem Team in Konkurrenz stand. Ohne dass es je jemand ausgesprochen hätte, bestand dennoch eine gewisse Rivalität zwischen Sordini und ihm. Diese war zwar völlig unbegründet, aber dennoch naheliegend und somit als gegeben anzunehmen. Zu Sordini hatte er folgende Meinung, die er in dem Buch des berühmten Prager Autoren aufs Genauste beschrieben fand: „Ich bewundere den Mann, trotzdem er für mich eine Qual ist. Er mißtraut nämlich jedem, auch wenn er z. B. irgendjemanden bei unzähligen Gelegenheiten als den vertrauenswürdigsten Menschen kennengelernt hat, mißtraut er ihm bei der nächsten Gelegenheit, wie wenn er ihn gar nicht kennen würde oder richtiger wie wenn er ihn als Lumpen kennen würde.“1
Sordini wollte Karriere machen und meinte wohl, er könnte ihm gefährlich werden, weil sie ihn womöglich im entscheidenden Moment favorisieren würden. Wenn Sordini gewusst hätte, dass er keine Gefahr für ihn bedeutete, dann hätte Sordini all diese unterschwelligen, aber offensichtlichen, sowie jene hintertriebenen Angelegenheiten, dieses Netz an Verderbnis, das er um ihn spann, diese anrüchigen Affären, die er über ihn verbreitete – all das hätte Sordini nicht nötig gehabt. Aber er konnte Sordini nicht offen gegenübertreten und der wiederum konnte nicht anders, als andere zu bekämpfen. Dies war Sordini längst zur zweiten Natur geworden. Etwa auf der letzten Betriebsfeier hatte Sordini ihn aufmerksam beäugt, und wie er später erfuhr, hatte jener die Biere gezählt, die er trank, hatte summiert und Schlussfolgerungen gezogen. Sordini selbst konnte nichts dafür, es war kein böser Wille, das war ihm eben antrainiert und beigebracht worden. Er hatte eine entsprechende Vergangenheit und wandte die alten Methoden durchaus erfolgreich an. Und dies scheinbar zu Recht. Jedenfalls wurde es ihm nicht untersagt, und er war somit gegenüber Kollegen im Vorteil, die solche Taktiken nicht kannten und ohne sich etwas dabei zu denken, auf einer Feier Bier tranken. Womöglich ließ er daraufhin im betrieblichen Plauderton die eine oder andere nebensächliche Bemerkung fallen: „X hat auch ganz schön getrunken auf der Weihnachtsfeier. Der verträgt etwas. Hätte ich ihm gar nicht zugetraut. Steht wohl gut im Training.“ Was natürlich hieß, dass derjenige öfters trank, womöglich oder wahrscheinlich sogar regelmäßig. Wie sonst kann es sein, dass jemand Alkohol so gut verträgt, sich nach etlichen Bieren nichts anmerken ließ. Womöglich trank derjenige auch während der Arbeitszeit und hatte längst gelernt, sich nichts anmerken zu lassen. Seine Bewunderung für den Prager Autor stieg ins Unermessliche. Dieser war unerreichbar in seiner Kenntnis und Beschreibung menschlichen Verhaltens: „Wenn aber Sordini auch nur den geringsten Vorteil gegenüber irgendjemandem in Händen hat, hat er schon gesiegt, denn nun erhöht sich noch seine Aufmerksamkeit, Energie, Geistesgegenwart und er ist für den Angegriffenen ein schrecklicher, für die Feinde des Angegriffenen ein herrlicher Anblick.“2

Und da stand Sordini! Im vertraulichen Gespräch mit seinem Chef. Spätabends. Natürlich, damit hätte er rechnen müssen. Sordini wollte ja stets zeigen, dass er immer für die Firma da war und sich über die Maßen einsetzte, gerade auch abends, wenn die anderen schon lange aufgegeben hatten. So konnte er sich abheben und hervortun. Schon wollte er sich unbemerkt zurückziehen, fast wäre es gelungen, als sie ihn im letzten Moment bemerkten. Sein Chef stutzte, und es kam ihm einen Moment lang so vor, als erkenne dieser ihn gar nicht. „Komm doch, komm“, rief Sordini lachend, als er sah, dass er sich bereits abwendete. Natürlich wollte er dabei sein, wenn einer mit einem Chef redete. Schließlich wollte er wissen, was derjenige zu sagen hatte. Es könnte ja ihn betreffen. Sordini wollte nicht, dass etwas ohne sein Wissen geschah. Es könnte ihn um die erhoffte Karriere bringen. Und er würde ihn bekämpfen, weiterhin und für alle Zeit. Dabei wollte er doch gar nicht kämpfen. Aber was sollte er zu ihnen sagen, da er nun nicht zur Sprache bringen konnte, weswegen er gekommen war.
Sie schauten ihn erwartungsvoll an, endlich sogar sein Chef, nachdem Sordini ihn herbeigerufen hatte.
„Oh, ich will nicht stören …“
„Nein, nein“, du störst nicht“, meinte Sordini. Seine Augen verengten sich: „Wir waren gerade fertig.“
Sie schauten ihn erwartungsvoll an.
„Ich bin – ich bin nur auf dem Weg hier – vorbeigekommen. Und wollte schauen, ob es Aufträge gibt, die möglicherweise mich betreffen."
„Auf dem Weg?“, fragte Sordini ungläubig und seine Augen funkelten. Aber auch er hatte einmal Glück. Das Telefon des Chefs klingelte. Dieser warf zunächst nur einen müden Blick auf das störende Gerät, aber griff im nächsten Moment, sich im Bürosessel herumwerfend, beherzt zu. Welcher Name wohl angezeigt wurde? Diese Gelegenheit nützte er, hob die Hand zum Abschied, drehte sich um und eilte davon, Sordinis Blick im Rücken, der ihn jedoch nicht zurückhalten konnte. So entkam er und wusste, Sordini würde geduldig warten. Würden sie über sein sonderbares Verhalten reden, sobald das Telefongespräch beendet war?
 1.  KAFKA, Franz: Das Schloß. Roman, in der Fassung der Handschrift, Frankfurt/Main: S. Fischer, 2008, 2. A. 2014, S. 80-81.
 2. KAFKA: Das Schloß, S. 83.

(Wer neugierig, interessiert, gespannt ist, wie die Handlung sich entwickelt, kann in dem Band mit 6 Geschichten "Tante Bella und die Grünpflanzenkommissarin" weiterlesen. Viel Vergnügen bei der Lektüre wünscht Euch Markus Reich.)
Share by: