Begegnung im Nachtbus

Die Indienreise der wundersamen Begegnungen

(Auszug aus dem 2. Teil. Unterwegs nach Ahmedabad.)

Begegnung im Nachtbus

Bei zuckersüßer, grellfarbener Limonade lümmele ich in der Abenddämmerung vor einem Chai-Shop in der College Road herum, während ich auf den Bus nach Ahmedabad warte. Zwei junge Inderinnen sitzen am Nachbartisch, Rikschas und Zweiräder rattern vorbei. Jemand hat einen prächtigen Vollmond aufgehängt, die Geschäfte sind erleuchtet, über einem steht in goldenen Lettern protzig Supermarket, dabei ist der Laden so groß wie eine Garage. Bald sind in Nashik Wahlen und schon morgens marschieren die Anhänger der verschiedenen Parteien in langen Dreier- und Viererreihen, schwenken Fahnen und skandieren Parolen. Sie haben etwas beunruhigend Fanatisches an sich. Rikschas haben gigantische Lautsprecher angeschraubt und mehrmals kamen Wahlwerber an meine Türe. Die letzten Tage in Nashik waren durch die indischen Bekannten geprägt, die mich zum Essen in ihre Wohnungen einluden.

Wo ist Jakob gerade? Wie geht es ihm? Ich überlege ernsthaft, ob ich mich zu einem Telefonat mit der Firma in Deutschland entschließen soll, um die Reise absegnen zu lassen. Um keine unpassende Antwort zu erhalten, verwerfe ich den Gedanken. Sollte ich jetzt nicht besser nach Hause fliegen? Aber was ist dieses Zuhause? Ich könnte zwar von Deutschland aus irgendwann nach Indien zurückkehren, aber das ist unwahrscheinlich. Ich würde wohl nie wieder zurückkommen. Wie oft sagt man sich, dass man jederzeit zurückkommen könne und tut es dann doch nie – und falls doch, kann man den Faden nicht an gleicher Stelle wieder aufnehmen. Wie eng und festgelegt die Welt in Europa ist, schreckt mich ab. Nur durch den Zufall, dass ich diesen großartigen Freund Jakob habe, konnte ich hier durchhalten und Einblicke in eine Welt bekommen, die weit und groß ist. Und das soll ich aufgeben? Jedoch ist es jeden Tag, jede Stunde möglich, dass ich krank werde. Die Reise kann scheitern, weil mein Tatendrang mich verlassen wird. Aber solange es möglich ist – und jetzt ist es möglich – sollte ich diese Gelegenheit nicht einfach vergeuden. Sie wird vielleicht nie wiederkommen.
Wenn ich mit wehenden Fahnen zu ihr überlaufe, vielleicht nimmt Leonora mich dann doch wieder auf. Wer weiß das schon? Aber vielleicht ende ich dann in einer Matratzengruft wie Heinrich Heine. Vielleicht heiratet sie gerade und küsst in einem weißen Kleid lachend einen Mann namens Gustave.

Inzwischen ist es dunkel und ich sitze noch immer auf einer kleinen Holzbank vor einer Bretterhütte mit Blechdach. Jemand hat mir ein weiteres Glas süßen Tees gebracht. Ich warte auf den Bus, der mich zur nächsten Station meiner Reise bringen wird. In der Millionenstadt Nashik gibt es außer mir keinen Weißen. Wenn ich irgendwo auf der Reise krank werde, muss ich mich ins Krankenhaus schleppen und dann wird da niemand sein, der mich kennt. Ich werde von jetzt an allein in Indien unterwegs sein und bin ungeheuer aufgeregt und glücklich. Neben mir steht mein grüner Reiserucksack. Alles was ich brauche, befindet sich darin.

Der Nachtbus nach Ahmedabad kommt endlich und mein Sitznachbar stellt sich als Gynäkologe vor. Erneut das tausendfach Gehörte: „Wheredoyoucomefrom?“, „Whatsyourname?“ Aber anstatt lästig ist die Unterhaltung angenehm, denn wir kommen über das übliche Frage- und Antwortspiel hinaus, weil der Gynäkologe ehrlich ist und weil er gut Englisch spricht. Als ich ihm von meinen Reiseplänen erzähle, seufzt er: „Ach, und ich habe keine Zeit. Wenn man erst mal seinen Beruf ausübt und dazu noch verheiratet ist …“ Er erzählt, wie gerne er wandern geht. Später vertraut er mir an, dass Ehemann und -frau die gleichen Interessen haben sollten. „Sonst gibt es Zank“, flüstert er. „Meine Frau geht mit zum Wandern, aber wenn wir auf den Berg steigen, bleibt sie am Fuße desselben sitzen.“ Ich erzähle ihm, dass man in Deutschland seinen Partner erst testen könne und wenn es nicht passt, sich trennt. Man müsse nicht gleich heiraten. Jahrelang zusammenzuleben, ohne zu heiraten, störe niemanden. Fasziniert hört er zu. Er vertraut mir an, dass er seine Frau vor der Hochzeit eine halbe Stunde sehen konnte und sich dann entscheiden musste, ob er sie heiraten wolle oder nicht. Er bestätigt, dass auch die Frau ablehnen kann.
„Ist deine Wahl richtig gewesen?“
„Meine Frau hat alles, was eine Frau haben soll.“
Eine typisch indische Antwort. Aber was um alles in der Welt meint er damit?
„Bei mir ist alles geregelt und festgelegt“, ergänzt er.
Er beneidet die Deutschen um das Zwei-Tage-Wochenende und die dreißig Tage Jahresurlaub. „Dann kann man ja so viel unternehmen. Hier hat man nur einen Tag in der Woche frei und wenn man dazu noch verheiratet ist“, klagt er und hebt resignierend die Schultern, während uns der Superior Luxury Coach durch die Dunkelheit schaukelt. Er ist mir sympathisch.
„Ich bin in Nashik immer mit dem Rad zur Firma und in die Stadt gefahren.“
Er nickt kapitulierend.
„Fährst du nicht Fahrrad?“
„Das geht nicht. Mein Status verlangt ein Auto oder wenigstens ein Motorrad. Wenn ich Rad fahre, meinen die Leute, ich könne mir kein Auto leisten, meine Praxis gehe schlecht. Aber eigentlich fahre ich so gerne mit dem Rad.“
Als Arzt warnt er mich vor Malaria, weil der Sommer beginnt. Auch vor Aids warnt er mich eindringlich und erwähnt, dass er keine Eier mehr esse: „Zuviel Cholesterin.“
Als ich versuche zu schlafen und mein Reisekissen hervorziehe, erklärt er begeistert, dass er sich auch eines kaufen will. Ich leihe es ihm. Nach acht Stunden steigt er in einer unbekannten Stadt aus und gibt mir zuvor seine Visitenkarte.
„Du musst mich unbedingt in Nashik besuchen, wenn du von deiner Reise zurück bist.“ Er meint es ernst. Irgendwie tut er mir leid. Er muss auf vieles verzichten. Und er weiß es.

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